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Auszüge aus dem geplanten Erzählband: Das Dorf

Der Aufsatz

Der Sozialismus siegt. So stand der Satz wie eine Offenbarung mit roten Lettern an der Wandzeitung unseres Klassenraumes. Es war eine Botschaft und ein Heilsversprechen, auch wenn es in den dunklen Räumen des alten Schlosses, das seit Jahren als Dorfschule diente, etwas verloren wirkte.

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Immerhin bewies es einmal mehr, dass jetzt auch die Mauern von gestern der Zukunft und dem Fortschritt dienten. Dieser war ohnehin nicht aufzuhalten. Das belegte eine Weltkarte, die sich unter der besagten Überschrift dem Betrachter geradezu aufdrängte.  Sie zeigte den weltweiten Vormarsch und unaufhaltsamen Sieg des Sozialismus. ROT, war die Farbe des Fortschritts und diese wurde seit 1917 wie ein Tintenklecks von der Weltkarte aufgesaugt. Bald schon gab es neben dem Urklecks, den die Sowjetunion hinterließ, die rosa oder rote Einfärbung der halben Welt. Von Cuba bis China, vom Baltikum bis in die Mongolei. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde die Karte gänzlich rot sein. Daran zweifelte niemand und es war auch besser so. 

Keine Frage, die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaftsordnung, wie es hieß, waren im Dorf mit Händen zu greifen. Jeder hatte ein Dach über dem Kopf, die LPG sorgte für Arbeit, Krimi-Linke, wie der ABV auf seiner grünen Schwalbe genannt wurde, für Sicherheit und die Dorfkneipe für Schnaps und Bier und manchmal für ausgelassene Geselligkeit mit Tanz. Und im Dorfkonsum gab es zu Weihnachten Bananen. Für Kinder sogar zwei. Wer wollte da noch an den gesellschaftlichen Vorzügen zweifeln, zumal das ideologische Rüstzeug mit der „Aktuellen Kamera“ gleichsam flimmernd mitgeliefert wurde: allabendlich, pünktlich um 19 Uhr 30. Dazu gab es ein Spruchband, das auf einem leeren Platz in der Dorfmitte dem kalten Westwind trotzte und den letzten Bauern im Schweinestall oder auf dem Rübenacker überzeugte: Dein Arbeitsplatz, ein Kampfplatz für den Frieden!

Die ehemals Ausgebeuteten hatten also allen Grund zufrieden zu sein, denn sie waren jetzt frei und fröhlich, die Ausbeuter dagegen geläutert oder weggesperrt. Die Kriegstreiber und Ewiggestrigen wurden in den Westen verjagt oder hatten sich dahin abgesetzt und ein Antifaschistischer Schutzwall sorgte dafür, dass sie nicht zurückkommen konnten. Der ewige Friede zog ins Land und die sowjetischen Kosmonauten ins All.

Der jungen Lehrerin an der Dorfschule, die erst frisch von der Uni kam, reichte das nicht. Es musste noch der Beweis erbracht werden für den enormen Wohlstand, der den Arbeitern und Bauern und den mit ihnen verbündeten Schichten, etwa der Intelligenz zu Teil wird. Natürlich Dank der führenden Rolle der SED unter Leitung der Genossen A, B und C. Folgerichtig ließ die junge Frau uns einen Aufsatz schreiben, indem wir das Lebensniveau der Familien unserer Eltern vor dem Krieg mit dem jetzt vergleichen sollten. Allein die Gegenüberstellung würde zum Beweis beitragen, dass der Sozialismus, für jeden Einzelnen von uns, ja jede Familie, nicht nur den Wohlstand sichere, sondern als die beste aller Staatsformen vermehrt habe und vermehre. Die Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus war also nicht nur graue Theorie, sondern gelebte Wirklichkeit.  

Eifrig kam auch ich der Arbeitsaufgabe nach, füllte zwei Seiten und meldete mich gleich als erster Schüler zum Vortrag. Die Lehrerin war froh, war sie doch sicher, dass ich ihrer Argumentationslinie nun handfeste Beweise liefere. Merkwürdigerweise meldeten sich sonst so eifrige Schüler erst gar nicht. Das hätte sie stutzig machen müssen. Doch die schlanke junge Frau war so von ihrem Tun überzeugt, dass sie keine Zweifel zuließ.

Vor dem Krieg, so begann ich mit meiner Gegenüberstellung, besaß die Familie meines Vaters ein großes Haus mit sechs Zimmern, heute haben wir in einem Block mit vier Parteien eine Mietwohnung mit 3 Zimmern. Auf dem Hof der Eltern und Großeltern gab es Kuh- und Pferdeställe, eine Scheune, einen Anbau mit Sommer- und Waschküche, entsprechendem Nebengelass und Schuppen. Heute haben wir einen Schuppen und einen Kaninchenstall. Früher hatten wir 4 Pferde und 15 Kühe, heute 10 Kaninchen, früher 12 Schweine, heute zwei Meerschweinchen; früher Schafe, Hühner, Enten, Gänse, heute nichts davon.

Die Lehrerin schüttelte den Kopf, so dass ihr die blonden Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Ohne das Ende meiner Ausführungen abzuwarten, unterbrach sie mich. Du solltest nicht nur an die Tiere denken, zum Wohlstand gehört ja viel mehr…  Nicht wahr, Kinder! Was gehört denn noch dazu?

Zum Beispiel, die Möbel oder ein Fahrrad, meldete sich einer. Oder ein Fernseher, ein anderer. Ja, bestätigte die junge Lehrerin, das macht Wohlstand aus.

Aber vor dem Krieg gab es noch keine Fernseher, warf jetzt mein Schulfreund Wolfgang ein. Wie will man das dann vergleichen?

Man kann auch etwas Anderes nehmen, sagte die Lehrerin und schaute fragend in die aufmerksamen Kindergesichter. Zum Beispiel ein Radio, rief jetzt ein Mädchen oder eine Briefmarkensammlung, ergänzte mein Banknachbar, der mit seinem Vater Briefmarken sammelte. Genau, bestätigte die Lehrerin und nickte kräftig.

Wieder gingen alle Blicke zu mir. Ein Radio hatte die Familie auch, eines vor dem Krieg und eines danach, berichtete ich.

Aber keine Briefmarkensammlung, mischte sich jetzt mein Banknachbar ein.

Dafür eine Münzsammlung, entgegnete ich schon etwas trotzig. Großvater hat nämlich Goldmünzen gesammelt. Die Schüler staunten. Echte Goldmünzen?

Ich nickte. Der jungen Lehrerin reichte es, eine Diskussion machte die Sache nicht besser. Aber du hast das schöne Auto vergessen, versuchte sie nun endlich zu punkten. Schließlich wusste auch sie, wie jeder im Dorf, um den grauen Trabant Kombi meiner Eltern. Elf Jahre hatten sie darauf gewartet, auch das wusste jeder. Ja, erwiderte ich, heute haben wir ein Auto.

Na bitte, sagte sie erleichtert, der Sozialismus!

Aber früher hatten wir auch ein Auto.

Unter den Faschisten? Die Empörung ließ ihren Kopf rot anlaufen.

Ja, gab ich kleinlaut zu und ärgerte mich schon, dass ich mich angreifbar gemacht hatte. Jetzt war ohnehin alles zu spät. Während sich die Lehrerin mit beiden Händen die Luft zuwedelte, legte ich nach: Und ein Motorrad hatten wir auch.

Nun war die junge Frau völlig ratlos, ihr Konzept längst hinfällig. Nervös schaute sie auf ihre Armbanduhr. Aber es klingelte noch nicht. Sie nahm ein Stück Kreide, ging zur Tafel, aber drehte wieder um. Du hast die Aufgabe falsch verstanden, sagte sie nun mit einem ernsten Gesichtsausdruck und hieß mich, wieder Platz zu nehmen. Damit endete der Vortrag, bevor er eigentlich richtig begonnen hatte. Zum Glück bekam ich keine Note.

Ich trottete zu meinem Sitzplatz, blieb dann aber stehen und drehte mich noch einmal um. Aber, wie sollte ich die Aufgabe denn richtig verstehen? fragte ich. Pioniere sagen doch immer die Wahrheit.

Ja, sagte die Lehrerin, die richtige Wahrheit!

In diesem Moment klingelte es.


Die Verrückten

Schon das Wort ist eine Herausforderung. Verrückt. Als Kind habe ich lange darüber nachgedacht, wie man verrückt sein konnte. Und was war verrückt? War es die Seele, die, wie ein Möbelstück vom angestammten Platz verrückt wurde? Aber wie konnte man eine Seele verrücken?

Im Dorf waren drei Seelen verrückt. Aus dem Gleichgewicht könnte man auch sagen. Aber das sagte keiner. Eher noch schimpften die Leute auf Bekloppte, Irre und Idioten. Es lag auf der Hand, dass auch deren Seelen verrückt waren.

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Herr Sch. war einer von Ihnen. Er war der Vater eines Schulkameraden. Allerdings war nicht zu erkennen, warum er verrückt war. Es musste mit seiner Scheidung zu tun haben. Denn erst mit der Scheidung hieß es, er wäre verrückt. Einen Zusammenhang vermochte ich nicht auszumachen. Siegfried, so der Kamerad, besuchte oft seinen Vater, der getrennt von seiner Frau in einem kleinen Zimmer des Nachbarhauses wohnte. Er hatte keine Angst vor dem Verrückten. Warum auch. Trotzdem begleitete ich ihn. Schon aus Neugier. Es gab sonst keine Geschiedenen. Meist brauchte Siegfried Geld für den Einkauf im Konsum. Eine Tüte Bonbon kostete 50 Pfennige. Der Vater gab ihm oft eine Mark. Manchmal sogar zwei. Vielleicht, so vermutete ich, ist er deshalb verrückt. Meinem Kameraden war das egal. Wichtig waren ihm nur die Bonbons.

Deutlicher verrückt war Kalle. Kalle war Treckerfahrer. Der Traktor war er selbst. Seine schmutzigen halbhohen Lederstiefel waren ausgetreten, wie abgenutzte Treckerreifen, die sich auf der staubigen Dorfstrasse voran schlurften. Vorbei an der Seifertschmiede, dem Kriegerdenkmal vor der Kirche, den backsteinernen Kuhställen der LPG, der Kurve bei Erna, dem Lehrer- und dem Spritzenhaus. Vorschriftsmäßig hatte Kalle die Hände am Lenkrad, wenn er durchs Dorf fuhr. Schließlich gab es auch Kurven und Schlaglöcher, denen er auswich. Am Dorfende musste er ohnehin wenden. Dann kuppelte er, gab Zwischengas, wie es sich gehörte und fuhr die Dorfstraße wieder hinauf. Das Motorengeräusch erzeugte er mit den wulstigen meist aufgesprungenen Lippen, durch die er Luft und Spucke blies. Kalle fuhr den ganzen Tag Traktor. Auch mit zwanzig Jahren. Kalle gefiel das, er hatte etwas zu tun. Er wurde gebraucht. Die größte Anerkennung fand Kalle, wenn man ihn auf seinem Traktor grüßte. Dann schaute er zunächst beschämt nach unten, während ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht huschte. Erst später, wenn er sich unbeobachtet fühlte, drückte er beide Fäuste erregt vor Freude gegen den Unterkiefer und schüttelte sich.

Kalle wusste nicht, dass seine Seele verrückt war. Warum auch, denn er war glücklich. Beneidet haben ihn die Leute trotzdem nicht.

Ganz und gar unglücklich war dagegen Frieda, eine kleine alte Frau mit langen grauen Haarsträhnen. Sie hatte keinen Mann. Dafür kam der Teufel zu ihr. Was er genau wollte, vermochte sie nicht zu erklären. Aber sie hatte Angst, wenn er sie aufsuchte. Dann lief sie aus dem Haus und erzählte es allen. Aber auf der Dorfstraße war niemand. Schon gar nicht, wenn Frieda die Arme in die Höhe riss und laut lamentierte. Also redete sie mit sich selbst oder dem Teufel. Nicht selten weinte sie bitterlich oder schrie. Es war ein großes Schreien. So groß, dass es das Dorf füllte. Auf den Äckern und in den Gärten hielten sich die Bauern die Ohren zu. Der Nachbar hatte alle Mühe Frieda einzufangen, sie mit einem Kälberstrick zu binden und in den Keller zu sperren. Von dort hörte man noch über Stunden das Wimmern der alten Frau. Es war unheimlich und doch so herzzerreißend, dass wir Kinder den Hof mieden.

Manchmal kam Frieda auch nach Teupitz. Ein Name, der durch das Dorf spukte. Es hörte sich immer wie eine Drohung an. Der Name musste etwas mit dem Teufel zu tun haben. Das vermutete ich, schon wegen der gemeinsamen Anfangssilbe. Doch Mutter verriet nie, was sich hinter dem Namen verbarg. Ich erfuhr es trotzdem und fühlte mich irgendwie bestätigt. Teupitz war eine Irrenanstalt. So sagten es die Leute im Dorf. Ich konnte mir wenig darunter vorstellen, aber das reichte, um mir Angst zu machen.

Frieda blieb über Tage oder Wochen in Teupitz. Gemeinsam mit anderen, denen der Teufel die Seelen verrückt hatte. Irgendwann kam Frieda zurück ins Dorf. Mir schien, dass alle Leute einen großen Bogen um sie machten. Vielleicht hatten sie Angst vor ihr oder dem Teufel. Vielleicht auch nur vor dem nächsten großen Schreien. Aber dafür hatte der Nachbar schon den Kälberstrick griffbereit neben die Kellertür gehängt.