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Auszug aus dem geplanten Erzählband: Das Dorf

Die Verrückten

Schon das Wort ist eine Herausforderung. Verrückt. Als Kind habe ich lange darüber nachgedacht, wie man verrückt sein konnte. Und was war verrückt? War es die Seele, die, wie ein Möbelstück, vom angestammten Platz verrückt wurde? Aber wie konnte man eine Seele verrücken?

Im Dorf waren drei Seelen verrückt. Aus dem Gleichgewicht könnte man auch sagen. Aber das sagte keiner. Eher noch schimpften die Leute auf Bekloppte, Irre und Idioten. Es lag auf der Hand, dass auch deren Seelen verrückt waren.

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Herr Sch. war einer von Ihnen. Er war der Vater eines Schulkameraden. Allerdings war nicht zu erkennen, warum er verrückt war. Es musste mit seiner Scheidung zu tun haben. Denn erst mit der Scheidung hieß es, er wäre verrückt. Einen Zusammenhang vermochte ich nicht auszumachen. Siegfried, so der Kamerad, besuchte oft seinen Vater, der getrennt von seiner Frau in einem kleinen Zimmer des Nachbarhauses wohnte. Er hatte keine Angst vor dem Verrückten. Warum auch. Trotzdem begleitete ich ihn. Schon aus Neugier. Es gab sonst keine Geschiedenen. Meist brauchte Siegfried Geld für den Einkauf im Konsum. Eine Tüte Bonbon kostete 50 Pfennige. Der Vater gab ihm oft eine Mark. Manchmal sogar zwei. Vielleicht, so vermutete ich, ist er deshalb verrückt. Meinem Kameraden war das egal. Wichtig waren ihm nur die Bonbons.

Deutlicher verrückt war Kalle. Kalle war Treckerfahrer. Der Traktor war er selbst. Seine schmutzigen halbhohen Lederstiefel waren ausgetreten, wie abgenutzte Treckerreifen, die sich auf der staubigen Dorfstrasse voran schlurften. Vorbei an der Seifertschmiede, dem Kriegerdenkmal vor der Kirche, den backsteinernen Kuhställen der LPG, der Kurve bei Erna, dem Lehrer- und dem Spritzenhaus. Vorschriftsmäßig hatte Kalle die Hände am Lenkrad, wenn er durchs Dorf fuhr. Schließlich gab es auch Kurven und Schlaglöcher, denen er auswich. Am Dorfende musste er ohnehin wenden. Dann kuppelte er, gab Zwischengas, wie es sich gehörte und fuhr die Dorfstraße wieder hinauf. Das Motorengeräusch erzeugte er mit den wulstigen meist aufgesprungenen Lippen, durch die er Luft und Spucke blies. Kalle fuhr den ganzen Tag Traktor. Auch mit zwanzig Jahren. Kalle gefiel das, er hatte etwas zu tun. Er wurde gebraucht. Die größte Anerkennung fand Kalle, wenn man ihn auf seinem Traktor grüßte. Dann schaute er zunächst beschämt nach unten, während ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht huschte. Erst später, wenn er sich unbeobachtet fühlte, drückte er beide Fäuste erregt vor Freude gegen den Unterkiefer und schüttelte sich.

Kalle wusste nicht, dass seine Seele verrückt war. Warum auch, denn er war glücklich. Beneidet haben ihn die Leute trotzdem nicht.

Ganz und gar unglücklich war dagegen Frieda, eine kleine alte Frau mit langen grauen Haarsträhnen. Sie hatte keinen Mann. Dafür kam der Teufel zu ihr. Was er genau wollte, vermochte sie nicht zu erklären. Aber sie hatte Angst, wenn er sie aufsuchte. Dann lief sie aus dem Haus und erzählte es allen. Aber auf der Dorfstraße war niemand. Schon gar nicht, wenn Frieda die Arme in die Höhe riss und laut lamentierte. Also redete sie mit sich selbst oder dem Teufel. Nicht selten weinte sie bitterlich oder schrie. Es war ein großes Schreien. So groß, dass es das Dorf füllte. Auf den Äckern und in den Gärten hielten sich die Bauern die Ohren zu. Der Nachbar hatte alle Mühe Frieda einzufangen, sie mit einem Kälberstrick zu binden und in den Keller zu sperren. Von dort hörte man noch über Stunden das Wimmern der alten Frau. Es war unheimlich und doch so herzzerreißend, dass wir Kinder den Hof mieden.

Manchmal kam Frieda auch nach Teupitz. Ein Name, der durch das Dorf spukte. Es hörte sich immer wie eine Drohung an. Der Name musste etwas mit dem Teufel zu tun haben. Das vermutete ich, schon wegen der gemeinsamen Anfangssilbe. Doch Mutter verriet nie, was sich hinter dem Namen verbarg. Ich erfuhr es trotzdem und fühlte mich irgendwie bestätigt. Teupitz war eine Irrenanstalt. So sagten es die Leute im Dorf. Ich konnte mir wenig darunter vorstellen, aber das reichte, um mir Angst zu machen.

Frieda blieb über Tage oder Wochen in Teupitz. Gemeinsam mit anderen, denen der Teufel die Seelen verrückt hatte. Irgendwann kam Frieda zurück ins Dorf. Mir schien, dass alle Leute einen großen Bogen um sie machten. Vielleicht hatten sie Angst vor ihr oder dem Teufel. Vielleicht auch nur vor dem nächsten großen Schreien. Aber dafür hatte der Nachbar schon den Kälberstrick griffbereit neben die Kellertür gehängt.