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Sechsunddreißig Seelen

  • Roman (ca. 310 S., geb., ISBN 978-3-96311-916-3) 28,00 Euro

Erscheinungstermin August 2024


Inhalt

„Heimat ist da, wo drei Dinge sind: unsere Erinnerungen, unsere Unschuld, unsere Toten. Doch wer will sich dafür interessieren? Heimat! Schon das Wort ist so alt, dass es keiner mehr versteht.“

Der Roman erzählt von einem vergessenen aber authentischen Landstrich und seinen eigenwilligen Bewohnern. Trotzig stemmen sie sich gegen das Ihnen auferlegte Schicksal. Wie die alte Schüllermann, die alle Uhren und damit die Zeit zum Stehen bringt, der Jude Buchsstein, der mit dem Mond zu reden lernt oder die Gastwirtsfrau Elli Noack, die, um die Geschichte vor dem Vergessen zu retten, Grabsteine eines aufgelösten Friedhofs in ihren Garten holt.

Rezensionen

Das Magazin (Prof. Dr. Erhard Schütz)

Andreas H. Apelts Roman erzählt ungemein suggestiv, in wahrer Meisterschaft, und setzt dieser speziellen Landschaft, ihrer Geschichte wie dem menschlichen Miteinander ein wunderbares Denkmal.

Lausitzer Rundschau (Ida Kretzschmar) 

Apelt… hat ein feines Gespür für die Befindlichkeiten und die differenzierte Gemengelage dieser Region. Und doch zeichnet er nicht nur ein Piktogramm der ostdeutschen Provinz. Im Mikrokosmos Dorf verhandelt er, mitunter dramatisch wie uferlos, große Fragen der Geschichte. Spürbar wird: Der Historiker wollte wissen, wie sie sich in den Seelen der kleinen Leute spiegelt.

Mit „Sechsunddreißig Seelen“ vollendet Andreas H. Apelt nach 30 Jahren seine Trilogie – und setzt den Menschen seiner Heimat ein Denkmal.

www. Literatursalon.de (Irmtraud Gutschke)

Für jede seiner Gestalten hat der Autor einen eigenen Blick: ironisch oder mitfühlend, voller Trauer oder voll Achtung. Sie lieben, sie weinen, sie schimpfen, hadern mit ihrer Vergangenheit oder wollen sie verdrängen. Und dazwischen der alte Pfarrer Graustock, der sich vom Teufel verfolgt sieht, und sein jüngster Sohn, der als Kirchenmann Gutes zu tun gedenkt. Immer wieder neue Turbulenzen. Man könnte eine Fernsehserie daraus machen. Auch Linke, der einstige Abschnittsbevollmächtigte, der nun Polizeibeamter ist, bekommt zu tun.

Insofern bewahrheitet sich dann doch nicht, was das Foto auf dem Umschlag sagt. Tristesse? Von wegen, Leser dürfen eine turbulente Handlung erwarten. Mal fühlt man sich wie in einer Dorfposse und dann wieder wie in einem bitterernsten Trauerspiel. Noch viele Seiten könnte es so weitergehen.

Bei der Lektüre dieses eindringlichen Buches musste ich an den Roman „Abschied von Matjora“ des russischen Schriftstellers Valentin Rasputin denken, wo ein sibirisches Dorf samt seiner Toten einem Staudamm weichen soll. Und auch der Roman „Sind wir ja gewohnt“ von Wassili Below kam mir in den Sinn, der das karge Leben auf einem Dorf zum Kontrast macht gegenüber den Verheißungen einer glücklichen Gesellschaft.

 

Jüdische Rundschau  (Dr. Udo Bartsch)

Ein Theatrum mundi in einem gottverlassenen Landstrich

Es muss Liebe sein, die den Autor versöhnt mit den Menschen und der Landschaft, einer dörflichen Ödnis an der Bruchkante eines alles verschlingenden Tagebaus. Ein spröder Menschenschlag, karg die Natur und durch den Willen des Menschen von einem „eisernen Drachen“ geschunden. Dunstiges Grau liegt auf der Geschichte und Wehmut auf dem Geschehen. Doch lichtet sich die Tristesse des Lebens durch berührende Herzenswärme und der Güte der Handelnden. Ihr Humor ist deftig und ehrlich; ein gerütteltes Maß an Bauernschläue und die lebendige, kräftig wirkende Erinnerung an Heimatliches leisten Widerstand gegen die Unbilden des Lebens.

Ort des Geschehens ist Drehna, mit dem stolzen Zunamen Fürstlich, ein vergessenes Dorf in der Niederlausitz. Akteure der Geschichte sind zumeist die Alten, die übriggebliebenen Bewohner des Dorfes. Die Jungen sind abgewandert, ihr Glück in der großen Welt suchend. Literarisch entfaltet sich für den Leser mit Fürstlich Drehna ein Mikrokosmos. Das Dorf wird zur Bühne des Lebens, auf der die Protagonisten in die Herausforderungen der Zeitläufe gestellt sind. Erzählt wird die Geschichte vom Widerstand der kleinen Leute, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, von ihrer geistigen Welt, den Motiven von Zuversicht und Hoffnung.

Ein Heimatroman im dörflichen Milieu, mit Klatsch und Tratsch im Wirtshaus und viel Alkohol, mit obligatorischem Gottesdienst am Sonntag und der lauschigen Bank unter der alten Esche am Marktplatz.  Flott geschrieben und vergnüglich gewürzt mit absonderlichen Geschichten von schrulligen Figuren, wie Urnenklau im Krematorium und Totengespräch im privaten Friedhof des eigenen Vorgartens. Hier wird in einem engen, überschaubaren Raum ein Theatrum mundi inszeniert, von dem man annehmen könnte, dass einer der 36, im Verborgenen wirkenden Gerechten, Gestalt annimmt. Nach einer jüdischen Legende ruht das Schicksal der Welt in jeder Generation auf 36 Gerechten. Ihretwegen bewahre Gott die Welt, auch wenn der Rest der Menschheit noch so verkommen wäre.

Vielleicht ist unter ihnen Elli Noack, die ehemalige Gastwirtsfrau aus Presenchen und Hauptheldin des Buches. Sie ist die gute Seele von Drehna. Den Heimsuchungen ihres bewegten Lebens beugt sie sich nicht und bleibt aufrecht. Trotzig und selbstbewusst widersetzt sie sich den Bonzen von unterschiedlicher Herkunft. Persönliche Schicksalsschläge berauben sie der Kinder durch Euthanasie und Suizid. Dennoch zerbricht sie daran nicht. In der harten Schule des Lebens überwindet sie Angst und bewahrt sich zugleich Freundlichkeit, Güte und Herzenswärme. Die Verluste von Heimat durch Kriegsgeschehen und kalkulierter Wüstung überwindet sie hingegen nicht. Sie bleiben in der Erinnerung stets gegenwärtig und nähren unstillbar die Sehnsucht nach Verwurzelung mit Mensch und Landschaft, Versöhnung von Geschichte und Gegenwart, Lebenden und Toten auf der immerwährenden Suche nach Wärme und Geborgenheit- nach Heimat. Auch die Toten haben ihren festen Platz in Elli Noacks Verständnis eines Generationen übergreifenden Lebens. Darin findet sich die Hoffnung wieder, die Erinnerung der Alten an die Jungen gleichsam als „Samen“ des Lebens weitergeben zu können. Die Botschaft der Alten erreicht sie in verwandelter Form, als Erzählung, Legende und Mythos, in Tradition und Brauchtumspflege. Erinnerung hält die Sehnsucht wach, nach Heimat, nach dem, was durch den Verlust von „Wurzeln“ bedroht oder durch Entfremdung bereits verloren gegangen ist.

In das dörfliche Geschehen eingewoben ist die Geschichte des „Trödlerjuden“ Samuel Buckstein. Auf seinen Spuren wandelt ein Nachfahre, ein emeritierter Professor aus Amerika, den die Frage bewegt, warum Samuel Buchsstein ausgerechnet hier Wurzeln schlagen wollte. Aus eigenen Erleben schlussfolgert er schließlich, „es müsse wohl dieser ganz besondere Menschenschlag sein“. Doch es war noch mehr, die Überzeugung, dass er, Samuel Buchsstein, als Kriegsveteran des 1. Weltkrieges, fernab der Hauptstadt unbehelligt durch die politischen Veränderungen der 1930-er Jahre kommen könne. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort, stößt er auf das Dorf Presenchen mit seinen einstmals 36 Seelen. Als gläubiger Jude sah er in der Zahl 36 ein Zeichen Gottes, wie es eine Legende im Talmud verhieß. So schöpfte er aus der Fügung neue Zuversicht. Doch die unmenschlichen Verhältnisse der Zeit ließen es nicht zu. Sein Ende bleibt unbekannt, alle Spuren von Samuel Buchsstein verlieren sich.

Heimat zu suchen, Heimat zu begründen, behaust zu sein, gelten als Archetypen menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns, im individuellen, wie im kollektiven Bewusstsein. Der Roman gewährt uns einfühlend und facettenreich einen Blick in eine kleine überschaubare Welt. Sie stiftet Geborgenheit, Zusammenhalt und menschliche Wärme ihren Bewohnern. Sie leben hier mit der Erfahrung vielfältiger Schicksalsschläge und Verluste, die verinnerlichten Hinterlassenschaften der alten diktatorischen Regime.

Nach dem politischen Umbruch in der DDR kam die neue Zeit. Niemand war darauf vorbereitet. Wie es hieß, sollte ein neues Zeitalter anbrechen, alles würde höher, größer und weiter werden. In der Tat kam die neue Zeit laut und lärmend daher, trat mit buntem Werbeflitter und allerlei Firlefanz in die Landschaft. Aufdringlich das Versprechen von Konsumglückseligkeit. Gleichzeitig aber greift, von tiefer Enttäuschung begleitet, Arbeitslosigkeit als neue, bisher unbekannte Wirklichkeit in das Leben. Das Wort macht die Runde, „erst hat uns der Tagebau geschluckt und eine Mondlandschaft hinterlassen und dann der Westen die Arbeitsplätze genommen.“ Die neuen Verhältnisse, die in der Dorfgemeinschaft „alles auf den Kopf stellen“ werden eher als Verlust an heimatlicher Geborgenheit, denn als Gewinn wahrgenommen. Die Verbliebenen fühlen sich als Verlierer in einer für sie zunehmend fremden Welt, die ihnen respektlos und mit einem unbekannten Denken entgegentritt. Gänzlich unverständlich tauchen plötzlich in der Region Restitutionsansprüche aus dem Westen auf. Was bisher ohne Zweifel als Eigenes galt, wird nun von unbekannt, mit einem Rechtstitel bekräftigt, als unrechtmäßig erklärt.  Zu alle dem wirft die unselige Vergangenheit dunkle Schatten auf die Gemeinschaft. Die Akteneinsicht von Dokumenten lässt erkennen, dass es unter ihnen Spitzel der Staatssicherheit gab.

Wer soll diesen Text heute, warum und mit welchem Gewinn für sich lesen? Auf den ersten Blick eröffnet sich für den Leser ein buntes Gewimmel wunderlicher Figuren. Ein Panoptikum literarisch aufgeputzt, unterhaltsam, mit schönen Bildern und einer wohltuenden Sprachdiktion? Unverkennbar ist die Lust des Autors, immer neue Gestalten in das Geschehen einzuführen. Das vervielfältigt das Ensemble der Akteure und nuanciert gewiss die Charaktere, macht das Geschehen vielschichtiger. Ob es den Sinn des Romans vertiefen kann, sei dahingestellt.

Der Autor lässt uns die Auseinandersetzung ahnen, die sich in der geistig-seelischen Dimension, dem inneren Handlungsraum seiner Akteure, abspielt. Es ist der Konflikt der Menschen mit sich selbst, mit Begierden und Genüssen, mit Lebensansprüchen und Motiven. In diesem Prozess kommt der Erinnerung eine gewichtige Bedeutung zu. „Nur wenn die Menschen wissen, woher sie kommen, wer sie sind und was sie auf ihrem bisherigen Weg behinderte, werden sie die Gegenwart bewältigen und eine Brücke in die Zukunft schlagen können.“ (Tschingis Aitmatow)

 

Banater Post (Prof. Dr. Anton Sterbling) 

Der Roman ist auch und zugleich im besten Sinne des Wortes ein Heimatroman. Dabei umfasst die Umschreibung des Begriffs der Heimat, wie sich erläutert findet, drei Dinge, nämlich neben den eher üblichen Konnotationen „unsere Erinnerungen“ und „unsere Toten“ auch „unsere Unschuld“. Bei genauerem Nachdenken ist das nicht nur eine etwas ungewöhnliche, sondern tatsächlich auch eine wesentliche Bestimmung des Heimatbegriffs, die jene tiefgründige Geborgenheit und Ursprünglichkeit meint, die sich mit dem Identitätsgefühl der Heimat verbindet.

 

www. Literatursalon.de Irmtraud Gutschke

Für jede seiner Gestalten hat der Autor einen eigenen Blick: ironisch oder mitfühlend, voller Trauer oder voll Achtung. Sie lieben, sie weinen, sie schimpfen, hadern mit ihrer Vergangenheit oder wollen sie verdrängen. Und dazwischen der alte Pfarrer Graustock, der sich vom Teufel verfolgt sieht, und sein jüngster Sohn, der als Kirchenmann Gutes zu tun gedenkt. Immer wieder neue Turbulenzen. Man könnte eine Fernsehserie daraus machen. Auch Linke, der einstige Abschnittsbevollmächtigte, der nun Polizeibeamter ist, bekommt zu tun.

Insofern bewahrheitet sich dann doch nicht, was das Foto auf dem Umschlag sagt. Tristesse? Von wegen, Leser dürfen eine turbulente Handlung erwarten. Mal fühlt man sich wie in einer Dorfposse und dann wieder wie in einem bitterernsten Trauerspiel. Noch viele Seiten könnte es so weitergehen.

Bei der Lektüre dieses eindringlichen Buches musste ich an den Roman „Abschied von Matjora“ des russischen Schriftstellers Valentin Rasputin denken, wo ein sibirisches Dorf samt seiner Toten einem Staudamm weichen soll. Und auch der Roman „Sind wir ja gewohnt“ von Wassili Below kam mir in den Sinn, der das karge Leben auf einem Dorf zum Kontrast macht gegenüber den Verheißungen einer glücklichen Gesellschaft.

Leseprobe

Das Leben ist wie ein Kreis. Immer wenn man sich auf einer Geraden wähnt, beginnt er sich zu schließen. Unmerklich und doch viel schneller, als man zu glauben wagt.

Wie oft muss Elli Noack an diese Sätze denken. Vor allem dann, wenn sie auf ihren Friedhof tritt. Aber es ist eigentlich kein richtiger Friedhof, weil die Toten fehlen. Der alten Frau, die auf einen Stock gestützt langsam durch die Reihen schlurft, ist das egal. Denn geblieben sind die Steine und die Erinnerungen. Da kann der Linke sagen, was er will. Auch wenn er eine Uniform trägt.

Wichtig ist, was man glaubt. So flüstert sie es in den Wind, dort auf einer kleinen Anhöhe am Rande des Dorfes, wo der Pademagker Weg ins Nichts führt. Der Wind nimmt die Worte mit. Hinüber über eine große Ebene, die sich wie eine Mondlandschaft nach Norden öffnet. Und vielleicht landen sie noch einmal da, wo alles begann. In diesem Presenchen, das es nicht mehr gibt, weil ein großer stählerner Koloss die gut ein Dutzend Häuser fraß. Häuser, wie die Deutsche Eiche, die einzige Kneipe, hinter deren Tresen Elli Noack so lange stand. Aber es reichte dem stählernen Ungeheuer mit seinen quietschenden Eimerketten nicht. Es folgten die Bäume, die blühenden Gärten, die Äcker und die Wiesen. Sogar der Pademagker Teich samt Fischen und Wehr. Nicht einmal an der alten Holzkirche und dem Kriegerdenkmal hat er sich verschluckt.

Von Presenchen geblieben sind die Steine, Grabsteine. Aber nur, weil Elli Noack sie vor dem Tagebau gerettet hat und sie für zwei Pfund Kaffee, Westkaffee versteht sich, ins Nachbardorf bringen ließ. Dort in ihren neuen Garten auf der kleinen Anhöhe von Drehna. Was haben die Arbeiter geschimpft: Die Alte hat sie doch nicht alle! Die Steine bis nach Drehna zu holen!

Elli Noack hat es nicht gestört. Denn seitdem können auch die Toten in ihre alte Heimat schauen, eine Heimat, die fast zeitgleich mit einem ganzen Land unterging. Elli Noack redet nicht von den Toten, sondern von den Ihren. Ihren Presenchenern, ihren Nachbarn, ihren Leuten. Und es ist nur gerecht, dass sie allesamt neugierig auf das schauen, was ihre Vergangenheit ausmachte. Sie finden ja sonst keinen Frieden.

Die Steine tragen Namen. Buchstaben und Silben der Erinnerung, sagt Lemkas. Da kann so ein Friedhof wie eine Bibliothek sein. Egal, welches Buch geöffnet wird, man kann darin lesen. Lemkas muss es wissen. War lange Oberlehrer, Latein natürlich, und ist so alt und grau wie die Noack.

Der Lemkas kann doch überhaupt nicht mehr lesen!, würde jetzt Linke, der Ortspolizist, widersprechen. Lemkas ist fast blind!

Aber was er sieht, genügt ihm, sagen die Leute im Dorf. Den Rest denkt er sich. Und im Gasthof zum Hirsch erkennt er seinen Stuhl am Knarren. Außerdem trägt Lemkas seine Bibliothek im Kopf. Egal, ob er durch Drehna stolpert, am Sonntag in den Hirschen einkehrt oder auf einer Bank am Markt sitzt. Lemkas ist ein wandelndes Lexikon.

Auch Elli Noack liest nicht in den Büchern. Dazu hatte sie schon in Presenchen als Gastwirtsfrau der Deutschen Eiche keine Zeit gehabt. Sie redet mit den Ihren. Und das sind ein gutes Dutzend Seelen. Egal, ob mit dem Erich, ihrem Mann, der Freundin Klara, der Tochter Evi oder dem Sohn, dessen verwitterter Pferdestecken noch immer am Grabstein lehnt. Da hat man schon eine Menge zu erzählen.

Der Linke versteht das alles nicht. Hat er auch früher nicht, als er noch auf seiner grünen Schwalbe durchs Dorf knatterte und eine andere Uniform trug. Abschnittsbevollmächtigter hieß er  da. Und als solcher wollte er noch den Friedhof verhindern. Eingriff in die sozialistische Produktion, so die Begründung, weil doch die Steine für den Wegebau gebraucht wurden! Doch dann kam alles anders. Revolution, nennen es manche. Für Ordnung sorgt Linke auch unter den neuen Herren. Gelernt ist eben gelernt und Uniform ist Uniform. Flexibilität heißt das. Die neue Zeit hat viele neue Wörter. Und manchmal ist auch noch Platz für das Alte.

In Drehna ist viel Platz. So heißt das Dorf seit der Revolution, zu der alle Wende sagen, wieder Fürstlich Drehna. Zu Recht, wie Lemkas nicht müde wird zu betonen. Schließlich wurde der frühere Schlossbesitzer 1807 geadelt. Und mit ihm der ganze Ort aufgewertet. Fast ein und ein halbes Jahrhundert blieb das so, aber dann kamen mit dem verlorenen letzten Krieg die Kommunisten. Und die strichen das Fürstlich. Zum Glück ein historisches Zwischenspiel, sagt Lemkas. Herrschaften kommen und gehen! Doch damit ist er lange nicht am Ende. Am liebsten würde er noch einen Vortrag zur deutschen Adelsgeschichte anhängen. Solche Vorträge enden nie. Warum auch, bei Lemkas lernt jeder etwas dazu.

Egal ob Revolution oder Wende, irgendwie ist Drehna ja auch fürstlich mit seinem Wasserschloss samt Park und Erbbegräbnis, dem imposanten Verwalterhaus auf dem Lindenplatz, dem Wirtschaftshof, der alten Brauerei, dem Tor zum Markt, dessen mächtige Pfeiler zwei Hirsche tragen, dem Markt selbst, der nichts anderes als ein großer leerer, aber zentraler Platz ist und dem Gasthof zum Hirsch. Da würde auch Linke nicht widersprechen, nur mit der Revolution hat er es nicht so. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wichtig ist, was man glaubt, wiederholt die alte Noack und schlurft über ihren Friedhof. Wenn sie nicht mit den Ihren redet, redet sie mit dem Mond. In Presenchen war das typisch, da redeten die Leute mit dem Mond. Zu besprechen gibt es immer etwas.

Der Efeu hat die Wege zwischen den Grabsteinen überwuchert. Elli Noack muss aufpassen, nicht mit ihren ausgetretenen Latschen hinzufallen. Auf einigen Steinen sind die Buchstaben kaum noch zu erkennen. Früher hat sie das beunruhigt, weil sie glaubte, man würde die Namen vergessen. Aber Lemkas nahm ihr die Angst. Selbst wenn die Buchstaben vergehen, werden die Namen bleiben, hat er gesagt. Sie versinken im Stein, der sie aufnimmt, um sie für immer in seinem Gedächtnis zu verschließen. Das hat ihr gefallen.

Solche schlauen Sätze könnten auch von Graustocks Ottmar sein, dem jungen Pfarrer mit blasser pickliger Haut und kurzen Haaren. Er trägt eine runde Nickelbrille vor den großen neugierigen Augen und sieht aus wie ein Oberschüler. Doch schon als Vikar wurde er als Herr Pfarrer angesprochen. Ottmar, der jüngste der drei Graustocksöhne, besucht die alte Noack, die es nicht mehr bis zur Kirche schafft, regelmäßig am Pademagker Weg. Denn auch er kennt die Geschichte. Die Geschichte von Presenchen und die der Steine. Sogar um das Geheimnis weiß er.

Die Leute im Dorf sind froh, dass der Ottmar nach dem Studium aus Berlin nach Fürstlich Drehna zurückgekehrt ist. Zu den Gottesdiensten ist beim alten Graustock kaum noch einer erschienen. Die gingen meist über Stunden, weil der schmächtige weißhaarige Mann nicht enden wollte. Noch ein Lied und noch ein Gebet. Und das Ganze von vorn, weil sich doch der Teufel in einer Bankreihe oder unter der Kanzel versteckte. Manchmal saß er sogar an der Orgel und stimmte ein ganz anderes Lied an, als es der alte Graustock wollte.

Begonnen hatte das alles mit einem Unfall. Es war der zweite Sohn Graustocks, Jakob, der in der Kurve von Fürstlich Drehna nach Crinitz gegen einen Baum fuhr. Dem alten Graustock hatte dieser Tod so zugesetzt, dass er sich nicht mehr erholte. Und dann ist er auch noch von der Kanzel die Treppe hinuntergefallen und musste lange das Bett hüten. Der Teufel, sagte er, habe ihm ein Bein gestellt.

Graustock gab nicht auf. Er bot dem Teufel die Stirn und verriegelte seit dem Vorfall beim Gottesdienst die Kirchentür. Doch der Teufel war schlau genug und drängte sich zwischen den Brüdern und Schwestern in das Innere. Graustock wollte ihn ergreifen. Aber der Teufel war schneller. Er sprang über die Bänke und verschwand im Kirchenschiff.

Graustock gab sich nicht geschlagen und ließ ein Lied anstimmen:

Und ob gleich alle Teufel / hier wollten widerstehn, / so wird doch ohne Zweifel / Gott nicht zurücke gehen.

Doch alles blieb umsonst. Der Teufel stellte sich nicht. Verwundert beobachtete die Gemeinde Graustocks Tun. Die Alten schüttelten die Köpfe.

Graustock sah es nicht einmal. Er klebte an seinen Texten. Und sprach so leise, als müsste er flüstern. Dabei ergaben die Predigttexte immer weniger Sinn. Der Teufel musste die Seiten ausgetauscht haben. Bald fehlten beim Gottesdienst die Männer. Eine bessere Ausrede konnte ihnen der alte Graustock nicht bieten. Allerdings hatten sie noch nie das Ende erwarten können. Aber das liegt am Gasthof zum Hirsch oder Hirschen, wie die Leute sagen. Er ist kein  Steinwurf von der Kirche entfernt und auch eine Art Gebetshaus. Nur dass dort nicht gesungen wird, jedenfalls keine christlichen Lieder. Zumindest findet der Teufel keinen Einlass, auch wenn der alte Graustock schwören wollte, dass er ihn durch die Tür hineingehen sah. Selbst nachschauen wollte er nicht, obwohl er vom Kirchhof aus alles beobachtet hatte. Einen anderen Beweis gibt es nicht, weil Lemkas, der einzige Gast zu dieser Zeit, ihn ohnehin kaum sehen konnte. Doch auch den Aufschlag des Pferdefußes vernahm Lemkas nicht. Nicht einmal die Dielen hätten geknarrt.

Der Graustock redet wirr, heißt es bald darauf im Hirsch. Wobei das gar keine Neuigkeit ist. Sondern nur der Beweis, dass mit dem alten Graustock etwas nicht stimmt. Worüber sollen sich die Männer sonst stundenlang unterhalten? So viel passiert auch in Fürstlich Drehna mit seinen 280 Seelen nicht.

282!, verbessert Linke und der muss es wissen, von Amts wegen versteht sich.

Die Männer im Hirschen nicken als Zeichen ihrer Zustimmung, das hier und da in ein lautes Lachen übergeht. Auch das ist eine Art der Anerkennung. Außer der dicke Friedhelm, der hat nichts zu lachen. Kein Wunder, findet doch der gelernte Forstarbeiter mit dem breiten Gesicht, dem dünnen blonden Haar und den wurstigen Fingern seit Jahren keine Arbeit. Erst, so sagt er es mit schwerer Zunge, hat ihm der Tagebau den Wald gestohlen und dann der Westen die Arbeit. Seitdem kämpft er, so als hätte er das Vermächtnis vom verstorbenen Pülsch  Richard übernommen, gegen die Welt an. Oder besser gegen die aufgeschüttete Mondlandschaft, zu der die Menschen Kippe sagen. Die hat sich um Fürstlich Drehna ausgebreitet und den Ort zu einer Halbinsel gemacht. Also steckt Friedhelm fast täglich Eicheln, Kastanien und Bucheckern ums Dorf und hofft, dass sich ein neuer Wald erhebt. Wie ein Bollwerk gegen die gelben und braunen Sandberge, die bis zum Horizont reichen, soll er sein. Ein Wald, so groß und schön wie früher.

Wenn Friedhelm nicht mehr kann oder will, sitzt er, meist eine Bierbüchse in der Hand, auf der Bank am Markt. Dort unter der Esche neben dem alten Forsthaus. Es ist die Bank, die der greise Oberförster Range über Jahrzehnte nutzte. Hier träumte er von alten Zeiten, in denen der Wald bis nach Wanninchen und Pademagk reichte, und schaute mit Friedhelm auf den großen leeren Platz, den hin und wieder Menschen zu Fuß oder mit dem Rad kreuzten. Manchmal kamen auch Autos vorbei. Ranges erster Blick aber gehörte dem Himmel, durch den Schwärme von Gänsen und Enten, aber auch Störche und Kraniche zogen. Sie nutzten jahrtausendealte Flugstraßen, die nach Süden oder Norden führten. Wen wunderte es, wenn Lemkas gerade dann oft bei ihm saß.

Friedhelm hörte gern den beiden Alten zu, wenn sie über die Vogelzüge sprachen. Es war noch eine andere, für Friedhelm verständliche Welt. Range, der bis ins hohe Alter seine Forstuniform trug, hatte die neue Welt auch nicht mehr verstanden. Aber er brauchte es nicht, denn er hatte seinen Frieden mit der Geschichte gemacht. Das versüßt den Tod. So verrieten es seine glasigen Augen, als man ihn auf seiner Holzbank fand. Es war an einem heißen Mittag im August. Oberförster a.D. Range musste das Ende als wohltuend empfunden haben. Wie ein warmer Hauch legte sich der Tod um seinen Nacken. Der Kopf fiel nach vorn, sodass das Kinn auf der grünen Uniformjacke lag und das weiße Haar ins Gesicht fiel. Die Forstmütze rutschte an ihm herunter. So langsam, als glitte sie mit ihm hinüber. Range hatte ein wohliges Gefühl ergriffen, wie ein Traum von einem großen, tiefen, alles umschlingenden Wald. Dabei erhob sich ein Rauschen von Millionen Blättern aus den Wipfeln von Eichen, Pappeln und Buchen, das wie eine Ouvertüre anschwoll. Die Sonne flutete die zartgrünen Birkenhaine und verzauberte verträumte Kieswege unter alten Sommerlinden mit Schattenspielen. Da waren Erlengrüppchen und die Weiden am See, die ihre Köpfe dicht über das Wasser hängten. Und es gab das unüberschaubare Meer von Kiefernwäldern, die eine Unzahl von Moosen, Farnen und Pilzen beherbergten. Aus solchen Träumen erwacht keiner mehr, denn die Bilder füllten sich mit einem hellen freundlichen Klingeln und Bimmeln wie aus Tausenden Glocken und Glöckchen, und sie steigerten sich zu einem ergreifenden Finale, wie der friedvolle Rausch eines süßen Todes.

Friedhelm wird dieser friedvolle Tod nicht vergönnt sein. So viel steht jetzt schon fest, sagt sogar Polizeibeamter Linke und stemmt die kräftigen Arme in die breiten Hüften. Da kann sich der Friedhelm noch so sehr den Hintern auf der Rangebank breit sitzen. Besser er käme mit sich und den historischen Umbrüchen ins Reine. Dabei schiebt sich Linke die Dienstmütze weit in den Nacken, so als wollte er seinen Worten eine besondere Bedeutung geben. Doch die Geschichte wurmt Friedhelm zu sehr, dabei, so Linke, könnte er sich an die Situation gewöhnen. Muss doch nur die Augen aufmachen, der Friedhelm, Chancen bietet die neue Zeit genug.

Friedhelm schafft das nicht, stattdessen ist er wütend. Man merkt es, wenn er mit hochrotem Kopf die leere Bierbüchse in einer Hand zerdrückt und sie in hohem Bogen in den Papierkorb wirft. Hätte er eine Frau, sagen die Leute im Dorf, könnte er sich wenigstens abreagieren. Was sie darunter verstehen, sagen sie nicht.

Hintergründe

Schauplatz der Handlung des jüngsten Romans ist Fürstlich Drehna. Der Ort in der Niederlausitz mit seinen 271 Einwohnern (2023), gehört heute zu Luckau. Das wiederum liegt in der Mitte der Strecke zwischen Berlin und Dresden, für die meisten Autofahrer im Niemandsland. Dabei hat Drehna und sein im Roman nicht unwichtiger Ortsteil Tugam, etwas zu bieten. Dazu zählen ein historisches Ortsensemble mit einem Renaissance-Wasserschloss, dem historischen Gasthaus zum Hirsch, einer dreihundert Jahre alten Brauerei und einem unter Mithilfe von Lenne` geschaffenen Landschaftspark.

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(ehemaliges Gasthaus in Tugam, einem Ortsteil von Drehna)

Bekanntheit erlangte Fürstlich Drehna, das zwischen 1950 und 1991 auf den fürstlichen Beinamen verzichten musste, aber auch durch eine Motocrossstrecke auf der sogar internationale Rennen ausgetragen werden.

Fürstlich Drehna kann auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken, maßgeblich beeinflusst durch bekannte Geschlechter. Zu nennen sind die Herren von Minckwitz (ab 1521) oder von Lynar (1807 in Fürstenstand erhoben), deren bauliche Veränderungen am Schloss bis heute sichtbar sind. Nicht zu vergessen der Bremer Reeder von Wätjen (ab 1877 Schlossherr), dessen Erbbegräbnis sich im Park befindet. Seine Handschrift ist im Ort deutlich nachweisbar.

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(Schloss und Lindenplatz als Schauplätze der Handlung)

Mehr als eine Handschrift hat der Braunkohletagebau hinterlassen. Er hat nicht nur Drehna zu einer Halbinsel in einer unwirklichen Gegend degradiert, sondern auch Dutzende Ortschaften für immer ausradiert. Presenchen, Stiebsdorf, Gliechow, Wanninchen, Pademagk sind nur einige der betroffenen Orte. Geblieben sind Mondlandschaften, die langsam von der Natur zurückerobert werden und Erinnerungen.

Der Roman möchte gerade den untergegangenen Orten und ihren Menschen ein Denkmal setzen.

 

Buschmühle                 4 Einwohner             Ortsabbruch 1974

Dubitzmühle                6 Einwohner             Ortsabbruch 1972

Fürstlich Drehna        2 Einwohner             Teilortsabbruch 1975

Gliechow                    120 Einwohner           Ortsabbruch 1978/79

Pademagk                  34 Einwohner            Ortsabbruch 1975/76

Presenchen                51 Einwohner            Ortsabbruch 1987/88

Schlabendorf             15 Einwohner            Teilortsabbruch 1988/89

Stiebsdorf                  60 Einwohner            Ortsabbruch 1983

Tornow                      364 Einwohner           Ortsabbruch 1968

Wanninchen                 40 Einwohner            Ortsabbruch 1986 

Zinnitz                        10 Einwohner             Teilortsabbruch 1988