Hannahs Verlies
Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020 (480 S., Br., ISBN 978-3-96311-329-1, 3. Aufl.)
Inhalt
So eine Geschichte habe ich noch nie gehört, sagte der Mann.
Ich konnte mir das auch nicht vorstellen, erwiderte ich. Aber dann fand ich die Aufzeichnungen…
In einem Schuhkarton unter dem Bett des verstorbenen Vaters Helmuth Harder findet der Sohn ein vergilbtes Foto. Es zeigt ein junges Mädchen und den auf der Rückseite mit einem Bleistift gekritzelten Satz: Ich hätte sie nicht einmauern dürfen.
Um zu erfahren, was es mit dem Satz auf sich hat, begibt sich der Sohn an der Seite seiner erblindeten Schwester auf Spurensuche. Sie beginnt im Februar 1945 in einem kleinen von Rotarmisten besetzten schlesischen Dorf, in dem die Bewohner hilflos der Wut der Besatzer ausgesetzt sind. Es folgen traumatische Erlebnisse eines Fünfzehnjährigen, der durch die Kriegs- und Nachkriegswirren taumelt und der Fluch eines Schuldgefühls, der bis in die Gegenwart reicht.
Für die Geschwister ist der Weg in die Geschichte, auch ein Weg zu sich selbst.
Rezensionen
MDR: Für den nachgeborenen Leser bietet der Roman eine der letzten großen Gelegenheiten, diesen bald aus der Zeitzeugenschaft entlassenen Teil der Geschichte für sein Gedächtnis zu übernehmen.
Mit diesem Roman liegt ein schwergewichtiges und an vielen Stellen ergreifendes, vielfach auch erschütterndes Erzählwerk in 38 Kapitel vor, das die Geschichte einer ursprünglich aus dem Steigerwald stammenden, in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Schlesien angesiedelten, gottesfürchtigen Familie und vor allem deren Leidensgeschichte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und danach erzählt.
DRESDNER NEUESTE NACHRICHTEN: Mit „Hannahs Verlies“ hat Apelt einen sowohl fulminanten als auch sehr emotionalen Antikriegsroman geschrieben, der den Leser von der ersten Zeile an zu fesseln vermag...
DER FREITAG: Für den nachgeborenen Leser bietet der Roman eine der letzten großen Gelegenheiten, diesen bald aus der Zeitzeugenschaft entlassenen Teil der Geschichte in sein Gedächtnis aufzunehmen. Aufnehmen als Übernehmen. Auch aus Verantwortung für die Geschichte vor uns.
MDR: Ein großer Roman darüber, wie ein nicht mehr fassbares Maß an Leid einen Menschen verstummen lässt und zerbricht.
Lausitzer Rundschau (--> PDF)
EKZ-Bibliotheksservice: Fesselnd und erschütternd, ein wichtiger, sehr empfehlenswerter Roman.
BANATER POST: Es liegt uns ein unbedingt lesens- und empfehlenswerter Roman vor, der dem Leser indes auch viel an Vermögen, in die Abgründe und Leidenszumutungen der menschlichen Geschichte zu blicken, abverlangt, der aber zugleich allzu einseitig gezeichnete und moralisch vorfixierte Bilder dieser Geschichte im 20. Jahrhundert lebensnah, realistisch und differenziert vervollständigt. (--> Rezension als pdf)
Leseprobe
Ich trat vor das Haus. Es war kühl, die Sonne fehlte. Ich dachte an Vater, der mir hier das Fahrradfahren beibrachte. Immer drehte ich Runden um die Pumpe, die mitten im Hof stand. Vater lief mir hinterher, hielt das Rad, fing mich auf. Ein eigenes Fahrrad hatte ich erst später, ich übte auf Vaters Rad. Das war eine besondere Herausforderung, denn es gab eine Stange in der Mitte. Ich musste ein Bein unter der Stange durch den Rahmen schieben und dann treten. Das Fahrrad hing schief in der Luft, aber es funktionierte. Ich wurde schneller und schneller. Lisa lief mir hinterher und versuchte mich einzuholen, aber mit ihren kleinen Schritten schaffte sie es nicht. Ich hatte meine Freude. Auch Mutter, die auf der Haustürschwelle saß und uns zuschaute. Vater war ausgelassen, er lachte. Ich habe ihn selten so lachen sehen.
Das alles war lange her. Es schien mir wie aus einer anderen Zeit. Vielleicht, so dachte ich, würde ich sogar noch Vaters Rad finden. Ich müsste nur suchen. Die Pumpe stand noch immer im Hof. Ob sie noch Wasser führte, wusste ich nicht, wahrscheinlich war sie versandet. Irgendwann hatte auch das Vorwerk Leitungswasser bekommen.
Ich ging zurück in die Küche und warf einige Holzscheite in den Herd. Dann setzte ich mich auf Vaters Platz ans Fenster. Von hier aus musterte ich die Küche, den Tisch, den Herd, den Küchenschrank, die Fensterbänke, die Waschschüssel in der Ecke, die Handtücher, die Deckenlampe. Alles schien seit meinem Weggang unverändert. Die Zeit hatte einen Bogen um das Haus gemacht. Vielleicht legte sich deshalb eine merkwürdige Stille um die Dinge.
In die Stille trat Mutter. Sie kam in die Küche, zog das Tuch vom Kopf und hängte es an einen Haken an der Tür. Mit beiden Händen richtete sie das Haar und ging zum Herd. Dort raffte sie mit der rechten Hand die dunkelblaue, an den Rändern ausgefranste Schürze und griff nach dem Eisenring an der glühenden Ofentür. Flink zog sie die Tür auf, dass ein goldgelbes Licht den Raum erhellte, legte neue Holzscheite ins prasselnde Feuer und warf die Tür wieder zu. Dann wischte sie sich die Hände an der Schürze und begann mit einem Holzlöffel in einem der schweren Töpfe zu rühren. So sah ich sie stehen. Sie redete nicht. Hin und wieder schob sie einen der Töpfe in eine andere Position. Dann strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rührte in dem anderen Topf. Es war ein schönes Gefühl ihr zuzuschauen. Ich hätte ihr auch gern etwas erzählt. Aber ich wusste, dass sie es nicht hören würde. Mutter schwieg und rührte.
Vielleicht, so dachte ich jetzt, hatte sich Vater so eine Frau gewünscht, eine Frau, die hinnahm und keine Fragen stellte. Dabei konnte Mutter auch fragen, aber sie wollte nicht. Sie zeigte ihre Stärke, wenn Vater schwach war. Wenn er ausfiel und im Keller saß oder unten an den Ufern der Fischteiche mit Pjotr lag und nur noch lallte.
Mutter hatte zu keinem Zeitpunkt versucht, ihren äußeren Umständen zu entfliehen. Sie fügte sich ihrem Schicksal. Es schien, als sah sie es als eine Art Pflichterfüllung an, ihrem Mann beizustehen. Sehr wahrscheinlich wäre jede andere Frau fortgelaufen und niemand hätte es auch ihr verdenken können. Dass Mutter blieb, sprach für sie. Und, wie mir erst bei den Recherchen aufging, für Maria. Doch das musste ich erklären. Ich griff nach meinem Laptop und begann zu schreiben. Schnell füllten sich die Seiten:
Es war Heiliger Abend im sächsischen Kamenz. Fünf und ein halbes Jahr nach Kriegsende. Noch immer hatte das Wortpaar einen besonderen Klang, Heiliger Abend. Gerade für Helmuth Harder. Von Erinnerungen wollte er lieber nicht reden.
Es hatte sechs Jahre gedauert, nun saß er wieder unter einem geschmückten Baum. Der Baum stand nicht in Sophienhof, sondern im Wohnzimmer eines kleinen Hauses in Kamenz. Neben Helmuth saßen drei Menschen, die er vor einer Woche noch nicht kannte. Am 4. Advent hatten sie ihn eingeladen zu bleiben. Und er hatte Ja gesagt, aber nur, weil er nicht wusste, wohin er sollte. Es gab niemanden, an den er sich wenden konnte.
Am Heiligen Abend war der Familie nicht zum Feiern. Auch ihm nicht, der in Kamenz eine neue Heimat fand. Zu sehr schmerzte die Ungewissheit über den Verbleib Marias. Nicht einmal eine Erklärung konnte Helmuth Harder der Familie Mewes bieten. Er hatte keine.
Helmuth kostete schon der Gang zur Christvesper einige Überwindung. Er tat es nur für die Mewes, denn er selbst wollte keine Kirche mehr sehen. Und schon gar keinen Gott anbeten, der nicht helfen mochte. Er hatte alles verloren, was er verlieren konnte. Vielleicht, so dachte er, war Gott doch tot. Erschlagen bei den Kämpfen um Breslau, verhungert auf einer Kellerstufe in Ketschendorf, erfroren im zugigen Viehwaggon gen Osten oder in einer einsamen sibirischen Winternacht, in der der Wind um die Baracken heulte.
Marias Eltern und die Schwester Magda beteten umso inniger. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, Maria wiederzusehen. Ihr Bild stand eingerahmt auf einer kleinen Anrichte im Wohnzimmer. Aufgenommen wurde das Bild im Sommer 44 auf dem Kamenzer Markt. Maria stand vor dem Andreasbrunnen und lachte in die Kamera, die blonden Haare waren nach oben gesteckt. Mutter Mewes hatte nach der Christvesper eine Kerze vor dem Bild entzündet und blieb lange vor der Anrichte stehen. Damit wir auch Maria etwas Wärme spenden können, sagte sie und schluchzte.
Neben Marias Bild stand ein zweites Bild. Es zeigte einen jungen Mann mit einem ernsten Gesicht. Er trug eine Wehrmachtsuniform. Der Infanterist wurde noch im April 45 gesehen, irgendwo bei Halbe südwestlich von Berlin. Dort tobte eine letzte große Schlacht vor den Toren der Reichshauptstadt. Ob Magdas Verlobter in Gefangenschaft geriet oder tot war, vermochte keiner zu sagen. Doch allein der Name, Halbe, verhieß nichts Gutes. Magda hatte Paul noch zum Weihnachtsfest 1944 gesehen. Fronturlaub wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feind, wie es hieß. Und Paul hatte seiner Leseratte, wie er mit verschnörkelten Buchstaben in der langen Widmung schrieb, eine Lederausgabe von Kleists Erzählungen geschenkt. Es war der erste Band mit Erzählungen, die Dramen sollten im zweiten und dritten Band folgen, weil Magda doch das Theater liebte. Auch das schrieb Paul in die Widmung. Genau wie den Satz: Wir sehen uns wieder! Den Fronturlaub nutzten die beiden für die Verlobungsfeier. Es war ihre letzte Begegnung.
Immer müssen wir warten und können nichts tun, sagte die Mutter und strich mit einer hageren Hand über die Bilderrahmen.
Von Maria haben wir wenigstens einen Zettel, sagte die Schwester. Das ist wie ein Zeugnis. Wie viele haben nicht einmal das.
Ja, sagte Vater Mewes und blickte auf den Zettel, der neben Marias Bild lag. Wer einen Zettel aus Sibirien hat, der hat schon viel. Mit traurigem Blick schaute er die Tochter an.
Helmuth sagte nichts und genehmigte sich noch einen vom Klaren, den Vater Mewes auf den Weihnachtstisch gestellt hatte. Es war das erste Mal, dass er Alkohol trank. Der Schnaps brannte im Mund, im Hals, im Magen. Doch noch lange nicht genug, denn am liebsten würde er darin verbrennen. Ja, einen Zettel oder ein Foto, das ist schon viel, dachte Helmuth Harder und schob die Hand in seine Hosentasche. Er wollte sichergehen, dass auch Hannah im schwarzen Kleidchen mit blonden geflochtenen Zöpfen und Sommersprossen mit ihm unter dem Christbaum saß. Und das, wenn schon nicht in Sophienhof, dann wenigstens in Kamenz.
An das neue Leben musste sich Helmuth Harder erst gewöhnen. Er war in Deutschland und doch nicht zu Hause. Seine Heimat blieb unerreichbar, genauso wie Hannah. Die neu gewonnene Freiheit empfand er nur als eine halbe Freiheit. Es gab niemanden, der über seinen Tagesablauf bestimmte, niemanden, der ihm vorschrieb, was zu machen oder zu unterlassen sei. Er war sein eigener Herr. Und trotzdem fiel ihm die Umstellung schwer. Sogar in einem richtigen Bett zu schlafen, mit Federkissen und weißer Bettwäsche, kostete einige Überwindung. Dabei hatte er seit Jahren genau davon geträumt. Schlafen konnte er trotzdem nicht, denn das Bett in der kleinen Kammer unter dem Dach gehörte Maria. Wie konnte er da auch nur ein Auge schließen. Viel lieber drückte er das Kissen an sich, so als hätte er Maria in den Armen, jene Maria, deren Geruch noch immer im Zimmer lag.
Das sächsische Städtchen, einst Geburtsstadt Gottfried Ephraim Lessings, wurde Helmuth Harders neues Zuhause. Nur das Wort Zuhause gebrauchte er nicht. Bestimmt hatte er mit dem Namen Lessing etwas anzufangen gewusst, immerhin wohnte die Familie Mewes nur fünf Gehminuten vom ehemaligen Wohnhaus des Dichters entfernt. Außerdem gab es Magda, eine gelernte Kostümschneiderin und eifrige Leserin, die seine Bücher kannte. Doch zu Beginn der Fünfzigerjahre zählten nicht Bücher und Theater, sondern Arbeit und Brot. Irgendwie drehte sich alles ums Essen und Sattwerden.
Bereits Ende Januar fand der junge Harder eine Anstellung in einer Schlosserei, zu der auch eine Schmiede gehörte. Dort wurde ein Geselle benötigt, da der Schlossermeister einen Großauftrag für Zaunfelder hatte. Die metallenen Pfeiler und Felder sollten einen russischen Ehrenfriedhof umzäunen. Gut hundert Rotarmisten, die bei den Kämpfen um Kamenz ums Leben kamen, lagen dort begraben.
In Kamenz sah niemand ein, dass man russische Soldaten ehrte. Dafür waren die Erinnerungen an die Einnahme der Stadt zu frisch. Zahlreiche Zivilisten fanden auch nach der Kapitulation den Tod. Und auch hier gab es Vergewaltigungen durch in aller Regel betrunkene Soldaten. Reden mochte darüber keiner.
Dennoch kursierten noch sechs Jahre nach Kriegsende die wildesten Gerüchte. Eines betraf den Tod zweier Schwestern, deren geschändete Körper in die Schwarze Elster geworfen wurden. Die jungen Frauen ertranken. Angeblich habe sich der Vater der Schwestern an einem der jungen Rotarmisten gerächt und ihn unweit des Flüsschens erschlagen. Zu beweisen war die Tat nicht, auch wenn die Geschichte von Harders Arbeitskollegen immer wieder erzählt wurde. Wenigstens einer, der sich wehrte!
Helmuth Harder äußerte sich nicht dazu. Vielleicht hatte er Angst, das Falsche zu sagen. Sibirien konnte dann sehr nah sein. Er blieb lieber still und setzte sich bewusst in den Pausen abseits. Am liebsten war er mit sich allein.
Zu Hause empfing ihn Magda, die sich seiner annahm. Sie wusch ihm die Sachen, kochte, nähte, kaufte ein. Helmuth war Teil der Familie. Er schlief noch immer in der kleinen Kammer Marias und stellte keine Ansprüche. Von Maria selbst gab es bis zum Sommer 1952 kein Lebenszeichen. Die Ungewissheit plagte die Familie. Noch immer wurden der Briefträger abgefangen, in der Hoffnung Post von Maria zu erhalten, Rückkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft befragt oder an das Deutsche Rote Kreuz geschrieben. Doch auch Dutzende Nachfragen brachten kein Licht in das Dunkel.
Ende August, es war ein Sonntagnachmittag, klopfte eine fremde Frau an die Tür des niedrigen Hauses. Frau Hegen, so ihr Name. Ich komme aus Cottbus, sagte die abgehärmte blasse Frau. Da bin ich auch geboren. Aber dann war ja der Krieg. Wir waren zehn Frauen, alle waren wir auf Transport. Sibirien, wenn Sie verstehn.
Sibirien versteht hier jeder, sagte Vater Mewes und schob die Frau in die gute Stube. Dort saßen sie bald um den großen Tisch, Frau Hegen, Helmuth und die Familie. Nur die Mutter konnte vor Aufregung nicht Platz nehmen. Nervös lief sie im Zimmer auf und ab.
Erst waren wir in Petrowsk, erzählte die Frau weiter. Das war ganz im Norden. Dort haben wir im Holzeinschlag gearbeitet. Zum Essen gab es wenig, die Kälte, die schwere Arbeit. Von unseren zehn Frauen haben wir drei innerhalb von vier Monaten beerdigt. Vorher war schon die jüngste im Waggon gestorben.
Die Frau machte eine Pause und ließ sich von Magda ein Glas Wasser bringen. Sie nahm einen kräftigen Schluck und fuhr fort. Im Lager Petrowsk lernte ich Maria kennen. Sie hatte einiges durchgemacht. Bald schlief sie unter mir. Ein gutes Mädchen. Hat geholfen, wo sie konnte. Und hat immer von Kamenz und der Familie erzählt. Gerührt wischte sich die Mutter Tränen aus den Augen.
Dort waren wir vier und ein halbes Jahr, fuhr die Frau fort. Dann wurde unser Lager aufgelöst. Es ging weiter. Zwei Wochen im Waggon nach Prokopjewsk, Bezirk Kemerowo. Ein neues Lager.
Wir wissen das, warf der alte Mewes ein und zeigte auf Helmuth. Er war auch da. Es muss schwer gewesen sein.
Die Frau nickte, sehr schwer. Gerade für die Frauen. Die Arbeit, der Hunger und die Krankheiten. Wieder schlief Maria in meiner Baracke. Erst hatte sie im Wald gearbeitet, dann bei den Aufräumarbeiten im Lager. Auch in der Krankenbaracke. Zu tun gab es immer. Maria hielt durch. Doch dann …
Was dann?, wollte jetzt die Mutter wissen.
Es gab Typhus. Viele hat es getroffen … Die Frau machte eine Pause. Dabei schloss sie die Augen und schwieg.
Die Mutter schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie schließlich, sie ist doch auf den Transport gekommen im Januar 1949! Wir wissen das genau! Dabei schaute sie Helmuth mit großen Augen an.
Welchen Transport? Es gab Anfang 49 keine Transporte.
Aber der Lagerarzt, der Kempast hat es doch gesagt!, unterbrach Helmuth. Er war aufgesprungen. Kempast musste es doch wissen!
Die Frau schüttelte den Kopf. Kempast hat getan, was er konnte. Aber er hatte keine Medikamente. Die Menschen starben unter seinen Händen.
Auch Maria?, fragte Magda leise und hatte doch Angst vor der Antwort.
Es war der 15. Dezember, es war noch gar nicht hell, sagte die Frau leise und musste schlucken. Dann starrte sie auf das Wasserglas, das sie mit beiden Händen hielt, während sich alle anderen Augen auf Helmuth richteten. Hatte er nicht gesagt, sie sei bereits entlassen? Auf Transport gegangen nach Deutschland! Ein Transport, den es gar nicht gab?
Helmuth Harder spürte die Augen, er sah, wie sie sich in ihn bohrten, tiefer und immer tiefer. Und sie quälten mit Fragen, die er nicht beantworten konnte. Was sollte er auch sagen? Kempast hatte ihn angelogen. Und er hatte ihm geglaubt!
Helmuth sprang auf und lief auf sein Zimmer, wo er sich auf das Bett warf, Marias Bett, und bitterlich weinte. Die Tränen galten seiner Liebe, die in Sibirien in einem Massengrab lag, verscharrt ohne Kreuz und Kranz, dem Lagerarzt Kempast, der ihm die Wahrheit vorenthielt und der Familie Mewes, der er eine Hoffnung schenkte, die nun durch Frau Hegen aus Cottbus zerbrach. Zwei Tage blieb Helmuth dort oben, schwänzte die Arbeit und rührte kein Essen an. Am dritten Tag schlich er hinunter und lief in die Bahnhofskneipe von Kamenz, wo er sich maßlos betrank.
Wie Helmuth Harder später erfuhr, hatte Frau Hegen zwei Jahre geschwiegen, hatte nichts, nicht einmal der eigenen Familie gesagt. So war es allen deportierten Frauen aufgetragen worden. Sie taten gut, sich daran zu halten, wollten sie Ärger vermeiden. Sie hatte unterschrieben und versucht die Lager und die Umstände zu vergessen. Aber dann war sie selbst krank geworden. Sie spuckte Blut und gebar trotzdem ein Kind. Es sollte ihr ganzer Trost sein. Der Junge aber war behindert. Sibirische Spätfolgen, hatte der Arzt gesagt, wohl vom Gift, mit dem die Baracken gereinigt wurden.
Der Ehemann verließ Frau Hegen. Was will er mit zwei Krüppeln, hatte er gesagt. Das verstand die Frau als Fingerzeig und wollte nicht mehr schweigen. Sie besuchte andere Frauen in Potsdam, Dresden und sogar Zittau. Und sie fasste sich ein Herz und fuhr nach Kamenz. Dort saß sie nun und erzählte die traurige Geschichte. Es war Marias Geschichte von den Lagern in Petrowsk und Prokopjewsk. Vom Sterben und der Hoffnung. Von Kempast, dem Tilsiter Arzt und einem jungen Mann, der Briefe auf Birkenrinde schrieb. Schöne Briefe! Das hatte ihr Maria anvertraut. Es war ein Schlesier, dessen Liebe Maria erwiderte. Soweit eine Liebe hinter Stacheldraht überhaupt möglich war. Mehr aber konnte sie nicht sagen, weil auch Maria nicht alles verriet.
Wir hatten so sehr gehofft, sagte Vater Mewes und schaute aus dem Fenster. Sein Gesicht war versteinert. Jetzt haben wir die Wahrheit, die noch bitterer ist als die Ungewissheit.
Typhus, sagte die Mutter, als wollte sie es nicht glauben. Dann nahm sie das Bild Marias von der Anrichte und drückte es gegen die Brust. Mein kleines Kind, schluchzte sie, mein liebes kleines Kind.
Hintergründe
Die hohe Authentizität des Textes ist vor allem einem Zeitzeugen zu verdanken: Wolfgang Lehmann, geboren 1929 in Großräschen. Seine Odyssee als sechszehnjähriger Schüler durch die KGB-Folterkeller in Calau, das Lager Ketschendorf bei Fürstenwalde, die sibirischen Arbeitslager in Prokopjewsk und Stalinsk stand Pate für eine literarisch verarbeitete Zeitzeugenschaft. Sein fotografisches Wissen ist bis heute (W. Lehmann ist 95) bewundernswert.
Zu danken ist aber auch anderen hochbetagten Zeitzeugen, deren Geschichten - nun erzählt - damit aus der Vergessenheit gerissen werden.
Wolfgang Lehmann nach seiner Rückkehr aus dem sibirischen Arbeitslager