Pappelallee
Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014 (304 S., geb., ISBN 978-3-95462-327-3)
Inhalt
Prenzlauer Berg 1989 – ein Insider-Roman über das Ende eines Zeitalters.
Berlin-Prenzlauer Berg im Jahr 1989. Ein neues Zeitalter kündigt sich an. Unaufhaltsam. Die Bewohner eines alten Mietshauses in der Nähe der berühmten Gethsemanekirche haben sich im real existierenden Sozialismus eingerichtet. Getschmar, der Hausbuchführer, die angepassten Frenzels, die »Hexe« Jankowitz und ihr Liebhaber Stolten, dessen Frau seit dem Krieg ohne Beine im Bett liegt. Ihr Leben in den letzten Monaten vor dem Mauerfall ist symptomatisch für ein vom Untergang gezeichnetes Land. Nur drei junge Leute stören den vermeintlichen Frieden. Ottmar, der Pfarrersohn aus der Niederlausitz und Theologiestudent, Hülsmann, der Kulissenschieber und Dichter, und Reinhard Voss, der Ausreiseantragsteller. Mit der Hausgemeinschaft sind sie auf mannigfaltige Weise verbunden. Sie halten den Kontakt zur »Außenwelt« der Hinterhöfe, Kneipen und Szenecafés.
In diesem Roman spiegelt sich die Dramatik des Revolutionsherbstes in den Seelen der kleinen Leute, deren Mut einen Staat und eine große Mauer zum Einsturz brachte.
Rezensionen
Prenzlauer Berg Nachrichten: Apelts Sprache ist lakonisch, darauf muss man sich einlassen. Doch sie passt gut zum Fatalismus der Geschichte.
Lausitzer Rundschau: Apelt zeichnet anhand der Bewohner eines Miethauses ein illusionsloses Endzeitbild.
Tagesspiegel: Die Mauer steht noch, aber die DDR sieht ihrem Ende bereits entgegen. In dieser Zeit spielt der Roman Pappelallee, in dem Prenzlauer Berg und seine Bewohner die Hauptrolle spielen.
Dresdner Neueste Nachrichten: eine große Figurenfülle ist um ihn herumgruppiert, die Apelt virtuos, beherrscht und auf den Höhepunkt der Handlung, auf die Revolution, hinführt.
Stuttgarter Nachrichten: In einem farbigen Mosaik aus Begebenheiten und Schicksalen porträtiert Apelt den Alltag der DDR, deren unberechenbare Willkür auch die Biografie des Autors bis 1989 dominierend bestimmt hat.
Das Magazin: ein Stück lebendiger Zeitgeschichte
Leseprobe
"Das Krächzen kommt wieder. Nachts, wenn er nicht schlafen kann. Dann hört er es, wie es die Treppe hinaufkommt. Das Holzbein, ganz allein, nur mit starken Lederriemen am Beinstummel befestigt. Es krächzt so laut, dass Hülsmann sich die Ohren zuhalten muss. Einschlafen kann er dann nicht mehr. So steht er auf und geht durch das Zimmer und horcht. Manchmal glaubt er, auch den Stolten zu hören, der sich in das Vorderhaus schleicht. Aber das kann auch Einbildung sein. Vielleicht, so hat er einmal geträumt, hat der Stolten dem Holzbein Blauerts aufgelauert, schon um seiner Frau ein Bein zu schenken. Weil die doch gar keines mehr hat. Zum Geburtstag oder zum Hochzeitstag. Aber das Bein passte nicht. Und das richtige Bein war doch schon 39 in Polen geblieben. Hülsmann schaltet nun doch lieber das Licht an. Das hilft gegen die Albträume. Aber hilft es wirklich? Als er aus dem Fenster schaut, sieht er es wieder, das Auto. Zwei Männer sitzen darin. In ihren Gesichtern glimmen Zigaretten."
Hintergründe
„Es ist ein stilles Sterben hier“. Dieser Satz stand über einem Artikel, den ich am 21. Oktober 1989 in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlichte. Der Text wurde Wochen vorher noch von amerikanischen Botschaftsangehörigen aus der DDR geschmuggelt. Er schilderte die Situation in Berlin-Prenzlauer Berg. Hier wohnte ich damals, genauer in der Gneiststraße. Die kleine Seitenstraße nördlich der Dimitroff-, heute Danziger Straße, verband die Schönhauser Allee mit der Pappelallee. Doch das Sterben, das ich beschrieb, war nicht nur typisch für den herunter gekommenen Szenebezirk im Osten Berlins, sondern symptomatisch für ein dem Untergang geweihtes Land.
Sogar von einem Exodus war die Rede. Ausgelöst durch das massenhafte „Gehen“, womit im umgangssprachlichen Sinne das Verlassen der DDR gen Westen gemeint ist. Egal, ob per Ausreisegenehmigung, per Flucht über eine DDR-Botschaft im Ausland oder über den Umweg Gefängnis per Freikauf. Es ist wie eine Pest, schrieb ich damals, die inzwischen Tausende erfasst hat„ eine Pest, die außer vergilbten Namensschildern, Telefonbucheintragungen ohne Teilnehmer, außer abgestellten Autos, mit alten Zeitungen und Mietmahnungen überfüllten Briefkästen und herrenlos herumstreunenden Hunden fast nichts zurück lässt.“ Eine ohnmächtige Wut und eine tiefe Resignation überfielen mich angesichts der Ignoranz der Staatsoberen, die ihr Volk im Stich ließen.
Die Geschichte ist immer die Geschichte von Menschen. So habe ich nicht ohne Grund Aufzeichnungen von damals gesucht. Und sie mit vielen anderen Zeitzeugnissen, Texten und Fotos, zusammen getragen und bearbeitet. Den Menschen von damals wollte ich ein Gesicht und eine Stimme geben. Herausgekommen ist nach einem ersten gemeinsamen Fotoband („Hinter der Stille, Berlin-Prenzlauer Berg 1979-1989“) mit dem holländischen Fotografen Ron Jagers, auch ein Roman: „Pappelallee“. Das Buch widmet sich den kleinen Leuten, die die herunter gekommenen Mietskasernen bevölkerten und die letzten lethargischen Jahre der DDR, wie die Umbrüche 1989/90 miterlebten und den Neuanfang wagten.
Da sind der Klavierstimmer Blauert, der sich mit seinem Holzbein in den vierten Stock meines Mietshauses quälte, um seine schmale Rente aufzubessern. Seinen kleinen Klavierbaubetrieb hatte der Staat bereits vor Jahren enteignet. Oder Frau Jankowsky, der eine fürchterliche Krankheit das Gesicht entstellte und die nur im Dunkeln das Haus verließ. Und doch fand sie irgendwie Trost.
Aber da waren auch der Kulissenschieber und Lebenskünstler Hülsmann, der mit seinem Ersatzausweis, einem sogenannten PM 12 nicht einmal die Stadt verlassen konnte. Der Theologiestudent Graustock, der sich im Neuen Forum organisierte oder die hübsche Kellnerin im Stammlokal, die mit ihrem West-Liebhaber im Opel-Senator wenigstens partiell dem grauen Ostalltag entfliehen wollte.
Authentisch ist auch Frau Stolten, die seit einem Bombentreffer auf ihr Haus ohne Beine im Bett lag. Und das seit über 40 Jahren. Gepflegt wurde sie von ihrem Mann, der längst mit der DDR abgeschlossen hatte und den allein der sonntägliche Gottesdienst in der Gethsemanekirche noch Orientierung gab.
Sie alle sind Zeugen einer Zeitenwende, die sich seit der gefälschten Kommunalwahl (nachgewiesen auch im Wahllokal Pappelallee) und ersten Protesten im Frühsommer 1989 ankündigte und durch die Botschaftsbesetzungen an Fahrt gewann. Dann das große Aufbegehren am 7. Oktober. In der Folge gelangte die berühmte Gethsemanekirche, die den Prenzlauer Berg mit seinem mächtigen backsteinernen Turm überragt, zu trauriger Berühmtheit. Die Proteste, begonnen am Alexanderplatz und vor dem Palast der Republik, kulminierten am Gotteshaus in einer Orgie der Gewalt. Auch die „Helden“ der Pappelallee bekamen die Schlagstöcke zu spüren, die brutalen Zuführungen, das stundenlange Stehen und die Misshandlungen in den Polizeirevieren in der Schönhauser Allee 22 oder der Immanuelkirchstraße. Und doch haben die Menschen nicht aufgegeben, trotz Verzweiflung und Ohnmacht. Auch die Graustocks und Hülsmanns nicht.
Die Maueröffnung am 9. November traf auch die Kiezbewohner unvorbereitet. Viele von ihnen haben sie in den Kneipen erlebt, in denen die Gerüchteküchen brodelten. Wie ein Lauffeuer wurden die Nachrichten verbreitet. Auch in der kleinen Kneipe mit dem putzigen Namen „Luftikus“, Pappelallee Nr. 80, fußläufig vom Grenzübergang Bornholmer Straße entfernt, hatte die Kunde vom glücklichsten Moment deutscher Geschichte, die Gäste elektrisiert.
Rufe wie „Wedding, Kudamm, Hertha!“ füllten den kleinen Raum, als könnte man die neue Freiheit mit drei Worten umschreiben. Viele wurden Zeuge, dort am Schlagbaum der Bornholmer Brücke, wo Weltgeschichte geschrieben wird. Abwartend harrten andere der Dinge, die da kommen mochten. Doch für alle galt, dass nach dieser Nacht nichts mehr so ist wie früher. Ein neues Zeitalter kündigte sich an.
Das haben auch die Kiezbewohner schnell begriffen. Der Westen ließ fortan den Osten nicht mehr los. Dabei hatte die Revolution nur eine erste Etappe genommen. Der Runde Tisch, die Besetzung der Stasizentrale Mitte Januar und vor allem die ersten freien Wahlen am 18. März 1990 standen erst bevor. Und im Prenzlauer Berg wurde besonders viel und gern Politik gemacht, schließlich hatten viele der Oppositionsgruppen hier einst begonnen: Neues Forum in der Fehrbelliner Straße, Initiative Frieden und Menschenrechte in der Rykestraße, Demokratischer Aufbruch in der Marienburger Straße, Demokratie jetzt in der Bötzowstraße. Der Wahlkampf wird den grauen Hausfassaden manch farbigen Klecks verpassen.
Auch für die Kiezbewohner begann ein neues Kämpfen. Und ein Suchen, Orientieren. Doch zunächst geht der alte Traum in Erfüllung: die erste große Reise in den gelobten Westen, der erste Einkaufsbummel auf dem Kudamm oder eben das erste Spiel bei Hertha. Olympiastadion, was sonst!
Doch neben vielem ungeahnten Glück, dann doch auch wieder Enttäuschung. So wie bei der jungen Kellnerin aus dem „Luftikus“, deren galanter „West-Liebhaber“, sich als treusorgender Familienvater entpuppte. Aber erst als sie unangekündigt vor der Charlottenburger Tür stand, in Erwartung der Fortsetzung ihrer Liebesromanze. Die Mauer hatte eben doch auch im Westen so manchen Schwindel verdeckt.
Enttäuschung gab es auch im Luftikus. Dort haben ausgerechnet Menschen für die Stasi Buch geführt, denen man vertraute. Dabei gibt es in einer kleinen Kiezkneipe kaum etwas zu verraten. Oder doch?
Verrat gab es auch auf der anderen Seite. Verrat an der großen Sache des Sozialismus. Und vorneweg waren ausgerechnet die Ideologen von einst. Ihre Auferstehung feierten sie in den Vorständen neuer Joint Venture Unternehmen oder anderer fragwürdiger GmbHs. So, wie Heinrich Hoffmann, Hülsmanns fast Schwiegervater, der sich als alter Parteisekretär im Kabelwerk Oberspree an die Spitze des neuen Fortschritts setzt. Das Statussymbol dieses Fortschritts leuchtete schon wenige Monate nach dem Mauerfall als silberner Stern von der Motorhaube seines neuen Wagens.
Das alles trübte den Neubeginn, trotz Aufbruch. Am Ende gab es doch irgendwie Gerechtigkeit. Ein Stück davon deutete sich schon Silvester 1989 im „Luftikus“ an, das bald darauf schließen muss. Somit war das Ende der kleinen Kneipe vorprogrammiert und das nicht weil die hübsche Kellnerin im Westen eine neue Arbeit fand. Restitution, so hieß das Wort, das bis dahin niemand im Kiez kannte. Rückübertragung. Die neue Zeit eben.
Doch für Wehmut blieb keine Zeit. Wieder werden die Menschen gefordert. Mit Mut, Ideen und Einfallsreichtum. Spätestens mit den Wahlen am 18. März werden sie ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Auch im Pappelkiez. Und sie werden die Zukunft wählen, ohne Mauer, ohne Bevormundung.