Skip to main content

Hinter der Stille / Berlin Prenzlauer Berg 1979–89

Bild-Text-Band, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2013


Inhalt

In den Achtzigern ist der Prenzlauer Berg ein  Eldorado für die Ost Berliner Kunst und Kulturszene. Doch bestimmt wird das Leben in den alten Mietskasernen vom Alltag. Hinter den bröckelnden Fassaden verbergen sich unzählige Geschichten. sie alle begründen den Mythos vom Prenzlauer Berg.

Der Berliner Autor, Andreas H. Apelt und der niederländische Fotograf Ron Jagers spürten zwischen 1979 und 1989 dem morbiden Charme des Kiezes nach. Entstanden, ist ein Band, der Erinnerungen an eine untergegangene Welt weckt.

hinterderstille2

Rezensionen

Berliner Kurier: Faszinierende Fotos. Die letzten Bilder vor dem Untergang der DDR.

BZ: Man erinnert sich kaum noch, wie der nahezu komplett sanierte Prenzlauer Berg vor dem Mauerfall einmal aussah. Das neue Buch „Hinter der Stille“ verschafft da Nachhilfe.

RBB kulturradio: Heute ist es im Bezirk Prenzlauer Berg so chic geworden, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie es dort früher mal aussah, der Berliner Publizist Andreas H. Apelt zeigt es an einem Bildband.

Leseprobe

Hackepeter

Annemarie, scheiden tut weh… So dringt es noch immer aus dem Eckhaus. Durch Türritzen und Fenstersimse, unter herunter gelassenen Holzrollos und Mauerrissen hindurch, aus Löchern, Spalten und Vorsprüngen. Musik. Sie quillt aus dem Inneren. Wie aus einer fernen heilen Welt. Mit einem Namen und was für einem. Und einem Programm. Hackepeter.

Knaak, Ecke Dimitroff. Keine Kneipe, kein Lokal. Ein Restaurant! Mindestens eine Gaststätte. Gehoben, versteht sich.

Also kein Tresen zum Sitzen oder gar Stehen. Hier wird bedient, richtig bedient. Was denn sonst? Und das seit fünfzig Jahren. Mindestens!

Ein kühler Empfang, wie eh und je. Der durchbohrende und gleichsam abschätzende Blick des Wirts. Vorn am Schanktisch hinter dem Eingang. Da hilft kein Lächeln des Gastes. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Reserviert noch besser. Denn am Abend gibt es kaum einen freien Platz.

Bedaure.

Schade.

Oder doch, warten Sie!

Aber worauf? Auf einen freien Stuhl? 

Bitte durchtreten!

Danke.

Nicht mal das Mobiliar hat in den fünfzig Jahren gewechselt. Das Mobiliar nicht, der Holztresen nicht, die Gardinen nicht, die braun-weißen Tischdecken nicht, schon gar nicht die Tapete, die der Zigarettenqualm gelbbraun färbte.

Und vielleicht haben nicht einmal die Kellner gewechselt. Jene flink dahineilenden Herren mit streng gescheitelten Kurzhaarschnitten in weißen Hemden und schwarzen Fliegen. Deren akkurate Gesten glauben lassen, sie wären als mechanische Figuren mit einem großen Schlüssel aufgezogen.

Also, nehmen Sie Platz, mein Herr!

Gern.

Ja bitte, mein Herr. Sie wünschen mein Herr?

Das Übliche. 

Selbstverständlich mein Herr. Ganz zu Diensten!

Also doch, Service.

Hackepeterservice, selbst vor dem Klo.

Denn da sitzt eine alte Dame im bunten Blümchenkleid. An einem Tischchen, das ein Reserviert-Schild trägt. Ordnung muss sein.

Vor ihr das kleine Tellerchen mit wenigen Groschen. Und Fünfern, zu denen die Leute Sechser sagen und Pfennigen. Unentwegt angestarrt von der Frau, als müsste sie nicht den Obolus der Gäste sondern die britischen Kronjuwelen bewachen. Unterbrochen nur vom Klimpern des Geldes und einem Dankeschön, mein Herr! Oder einem: Sehr Recht, meine Dame!

Aber gern geschehen. 

Und da ist die Musik, richtige Musik. Zwei Männer, sechzig, siebzig Jahre alt. Braune Anzüge, Seitenscheitel, Pomade. Schlagzeug und Akkordeon. Und manchmal Gesang. Deutsch, versteht sich. Was auch sonst. Versteht sonst eh keiner!

Also, Junge komm bald wieder, komm bald wieder zurück…

Na bitte. Da schmeckt das Bier gleich ganz anders. Und der Kurze.

Von der Bockwurst ganz zu schweigen. Das Hauptgericht, mit oder ohne Kartoffelsalat.

Und dann, manchmal auch Tanz. Auch wenn die kleine Tanzfläche vor der Kapelle nur zwei Pärchen fasst. Und vielleicht noch einen Kellner, der sich durchdrängeln muss.

Vorsicht, meine Herrschaften!

Aber gern.

Na bitte, geht doch.

Junge komm bald wieder, komm bald wieder zurück…

So also ist das in einem Restaurant im Prenzlauer Berg. Ach was, in dem Restaurant vom Prenzlauer Berg.

Noch Fragen?

Besser nicht.

Also, noch ein Lied. Annemarie, scheiden tut weh… Und nicht nur das.

Auch vom Hackepeter muss man scheiden. Genau dann, wenn es am Gemütlichsten ist.

Tut mir leid, mein Herr.

Dabei macht es erst um ein Uhr dicht. Nicht schon um zwölf, wie die anderen Lokalitäten der Umgebung.

Eben ein Restaurant und was Besonderes.

Ja, was ganz Besonderes.

Ihre Rechnung, mein Herr.

Danke.

Beehren Sie uns bald wieder, mein Herr!

Beehren! Was für ein Wort!

Die neue Zeit hat das Hackepeter nicht mehr beehrt.

Was bleibt ist die Erinnerung. An die Musik, den Tanz, die Klofrau im Blümchenkleid, die Kellner mit ihren akkuraten Kurzhaarschnitten und mechanischen Bewegungen in weißen Hemden. Und die gelbbraunen Tapeten. Aber beehrt die Erinnerung?

Annemarie, scheiden tut weh …