Hiddensee – Die Insel der Anderen
Anthologie (Hrsg. mit C. Klauß), Mitteldeutscher Verlag, Halle 2012
Inhalt
Hiddensee – die kleine Ostsee Insel mit ihren langen weißen Stränden und Steilküstenformationen war schon schon seit den Zwanziger Jahren Treffpunkt der Boheme und Aussteiger-Idyll. Auf dem Eiland konnte man nackt sein und frei, was man immer auch darunter verstand. Hier trafen sich auf der Spielwiese für Unangepasste und Andersdenkende allerlei Künstler und Lebenskünstler, Kreative…. Die Insel war zu DDR-Zeiten Sperrgebiet und gleichzeitig eine Art Niemandsland, indem man den Alltag weit hinter sich ließ.
Das Buch erzählt authentische Geschichten aus sechs Jahrzehnten vom Anderssein auf Hiddensee …
Rezensionen
Wie vielfältig und subversiv die Szene derer war, die das Eiland von den Fünfzigern bis zum Ende der DDR anzog, beschreibt eindrucksvoll der Sammelband. Superillu
Ein abwechslungsreiches, informatives, vielseitiges Loblied auf die Insel Hiddensee - aus sechs Jahrzehnten. Der Medienbrief
Leseprobe
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.
Franz Kafka in „Der Prozeß“
Ich bin nicht Josef K., ich nicht. Und doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, jenem tragischen Helden aus Kafkas Prozeß ganz nah zu sein. Es gab noch keinen Prozess und es war auch noch nicht sicher, ob es je einen geben würde, aber ein erstes Urteil trug ich bereits mit mir herum. Es war ein grauer Zettel, wie aus einer Schulheftseite gerissen und mit einem amtlichen Stempel versehen, der obgleich er keinerlei Hinweis enthielt, keinen Zweifel daran ließ, dass der Besitzer zur Persona non grata, zur unerwünschten Person erklärt wurde. Mehr nicht. Und doch hatte dieser Schein, der einen „Vorgang“ begründete, wie es im Amtsdeutsch hieß und fortan die einzig ausweisbare Legitimation meines Daseins bilden sollte, eine Wirkung, die alles andere in den Schatten stellte und mein Leben auf den Kopf.
Nur weg, dachte ich, nur weg von diesem Berlin, dass mir kein Glück brachte. Und sei es nur für einige Tage, denn mein neuer Ausweis, soweit er noch den Namen verdiente, ließ nicht mehr als fünf Tage Abwesenheit zu, wollte ich mich nicht strafbar machen. Spätestens am fünften Tag kurz vor Mitternacht musste ich also wieder bei meiner zuständigen Berliner Volkspolizeiinspektion in der Schönhauser Allee vorstellig werden, wo mir mein Erscheinen vorgangsgemäß mit einem weiteren Stempel quittiert wurde. Dem vorgeschriebenen Zyklus gehorchend, entschied ich mich nach Hiddensee, jener traumhaften Ostseeinsel zu fahren, die selbst von den Einheimischen gern als „dat söte Länneken“, das süße Ländchen bezeichnet wird. Eine gute und ebenso verhängnisvolle Idee, wie sich heraus stellen sollte.
Gut, weil der Sommer 1982 eine heiße und geradezu zum Sonnenurlaub auf Hiddensee einladende Jahreszeit war. Verhängnisvoll weil dieser Ausweisersatz als einmalige Delegitimierung des Staatsbürgers, der schon auf dem Festland jeden Staatsdiener der Arbeiter- und Bauernmacht auf den Plan rufen musste, seine Wirkung besonders auf dem Eiland entfalten musste. Vorausgesetzt man lief der allmächtigen Staatsmacht in die Hände, was nach Lage der Dinge, gar nicht gesagt war. Doch irgendwie schienen in diesem Land, das sich immerhin mit dem Adjektiv demokratisch schmückte, die staatlichen Organe einen besonderen Blick für jene nicht ganz getreuen Untertanen entwickelt zu haben. Dieser geschulte tschekistische Blick war natürlich auf einer Insel von der Bedeutung Hiddensees besonders gefragt. Denn die Insel, zumindest in den Augen der staatstreuen Inselmächtigen, ein Vorposten des real existierenden Sozialismus, eröffnete manch Untertanen einmalige nicht ganz systemkonforme Aussichten. Die geringste mochte dabei noch der glückliche Erwerb einer unter der Hand vergebenen Urlaubsunterkunft gewesen sein. Von ganz anderer Bedeutung war dagegen die Aussicht auf jene ersehnte westliche Freiheit, die wohl gerade auf Hiddensee ihren Ausgang nehmen konnte, vorausgesetzt der oder die Fluchtwillige ließ sich auf das Abenteuer Ostsee ein. Denn der beschwerliche Weg über das unberechenbare Meer gen Dänemark endete nicht selten mit dem Tod der „Republikflüchtigen“. Insofern war dies auch kein Massenphänomen, auch wenn die zuweilen angeschwemmten Leichen etwas anderes erzählen mochten. Hiddensee also war Grenzgebiet, was der Arbeit der staatlichen Organe noch einmal eine besondere, eine höhere Weihe verlieh. Folgerichtig machte der besagte tschekistische Blick auch nicht vor den Inselpolizisten noch vor ihren vielen zivilen Helfershelfern halt. Leider, denn auf diese Art gerieten wir, eine enge Freundin, ein guter Berliner Bekannter und ich, allesamt etwa Mitte Zwanzig, sehr schnell in das Visier der Staatsmacht und mit dem Gesetz in Berührung. Kaum hatten wir in Vitte den Dampfer aus Stralsund verlassen, als ein besonders ehrgeiziges Exemplar von Helfershelfer unseren Weg kreuzte. Dabei hatten wir es nicht einmal bis zum Strand geschafft, der keine dreihundert Meter westlich vom Hafen lag.
Die Ausweise bitte!, forderte der junge zivile Beamte, der sich mit einem landesüblichen Ausweis eines Sicherheitsorgans auswies. Der große etwas bullige blonde Mann, dessen sächsische Mundart wie ein Fremdkörper auf der Ostseeinsel wirkte, hatte trotz der gemütlichen Sprachfärbung offensichtlich wenig Verständnis für unsere Erholungsbegehren. Noch weniger, als er gewahrte, dass jeder von uns einen anderen Ausweis besaß. Ich, jenen grauen Zettel, der nicht einmal ein Passbild trug, Frank einen zweiseitigen „PM12“, den er als deklassierenden Ersatzausweis für einen von der Polizei eingezogenen Personalausweis erhielt und Manuela, die immerhin mit dem regulären Dokument des Paß- und Meldewesens der Republik glänzte. Keine Frage, in den Augen dieses jungen Ordnungshüters, dessen martialisches Aussehen in einer abgeschabten Lederjacke eher an einen Cowboy erinnerte, machten wir uns umgehend verdächtig. Da musste er nicht einmal an das Grenzgebiet denken. Doch zunächst schimpfte er auf Berlin, dessen Sonderregelungen im Umgang mit bestimmten Personen offenbar nicht in die Republik, schon gar nicht bis nach Hiddensee und Rügen kommuniziert wurden. Aber das interessierte uns kaum, so gern wir das Innenleben eines Staatswesens, das unweigerlich kafkaeske Züge annahm, karikiert hätten. Was uns viel mehr interessierte war die Frage, wie unser junge Genosse und auf Hiddensee verirrter Cowboy, mit dem nun auftretenden Problem umgehen würde. Natürlich hofften wir auf eine Routinekontrolle und eine schnelle Abfertigung mit dieser oder jener Ermahnung oder gar Auflage, aber immer mit dem Ergebnis, unserer Wege gehen zu können. Zugleich war uns auch klar, dass der Hiddenseeaufenthalt unter unglücklichen Umständen schon beendet werden konnte, noch bevor er richtig begonnen hatte.