Schwarzer Herbst
Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2010 (288 S., geb. mit SchU, ISBN 978-3-89812-722-6)
Inhalt
Presenchen lebt! Davon überzeugt, lässt Elli Noack die Grabsteine ihres vom Tagebau geschluckten Dorfes heimlich in den Garten des neuen Heimatortes bringen. Um die Geschichte vor dem Vergessen zu retten, verteidigt sie ihren Friedhof mit liebenswürdigem Starrsinn gegen die kleingeistigen Behörden, organisiert geheime Treffen der Altpresenchener und unterstützt den Widerstand gegen den Tagebau. Mit der "Wende" sehen sich die Dorfbewohner vor neue Herausforderungen gestellt. Und wieder ist es die eigene Geschichte, die sie einholt.
Rezensionen
Schon anlässlich seines Erzähldebüts „Schneewalzer“ hat die Kritik Andreas H. Apelt Stilsicherheit bescheinigt. In „Schwarzer Herbst“ bringt der Autor seine Erzähltechnik zur Meisterschaft. Die Welt
Ein eindrucksvoller Roman, den man, nicht mehr aus der Hand legen möchte. MDR
Apelt weiß, wovon er schreibt. Berliner Morgenpost
Der Autor erzählt bilderreich und lebendig große Geschichte vom Alltag der kleinen Leute. Es geht um den immerwährenden Konflikt zwischen Fortschritt und Bewahrung, um menschliche Würde und Erinnerungskultur, zentrales Motiv hier der Umgang mit den Toten. Ein empfehlenswerter Roman voll innerer Spannung. Ekz. Bibliotheksservice
Der Roman ist eine leise poetische Beschreibung… Hamburger Lokalradio
In „Schwarzer Herbst“ wird deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf einfühlsame wie dramatische Weise lebendig. LIGA Libell
Man spürt die Verbundenheit des Autors mit der geschundenen Landschaft und mit diesem ganz eigenen Menschenschlag. Thüringer Landeszeitung
Seine Stärken hat Apelts Erzählen dort, wo die knorrigen Figuren mit Mut und Witz Einspruch dagegen erheben, dass sie die Geschichte mal genommen, mal zugewiesen bekommen sollen. Neues Deutschland
Stein für Stein, gleich einem Mosaik, setzt Andreas H. Apelt die Figuren ins Bild, zeichnet sie und ihre Geschichte raumnehmend im Schatten der Schaufelradbagger. Das Magazin
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an die Heimat. …. Apelt belässt es nicht bei einfühlsamen Heimatgeschichten. Er unternimmt einen großen Versuch in diesem Mikrokosmos Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts zu markieren. Lausitzer Rundschau
In seinem neuen Roman räumt er nun ein, die deutsche Einheit hätte optimaler laufen können. Er entwirft ein Szenario, das schon manches Klischee erfüllt und dabei trotzdem nicht platt wirkt. Märkische Allgemeine
Andreas H. H Apelt … zeichnet die Lebenswege und Schicksale einer Handvoll Menschen nach, ohne in die „gewählte“ Rhetorik der Politik oder Wissenschaft zu fallen. Seine Sprache ist die, der einfachen Leute, einfühlsam, im Ton zuweilen elegisch, seine Figurenzeichnungen plastisch und ganz auf die Erfahrungs- und Lebenswelt der Alt-Presenchener in den Jahren um 1989/90 gestimmt. Die Berliner Literaturkritik
Für Geschichtsinteressierte, die sich gerne mitten in die Atmosphäre der geschilderten Zeit begeben. Auch zur Erörterung in Lesekreisen sehr empfohlen. Der Evangelische Buchberater
Leseprobe
Nicht mal die Toten dürfen bleiben. Nicht mal die.
Dabei regnet es seit Tagen unaufhörlich. Kleine Rinnsale durchziehen die gelben und schwarzen Sandhaufen und suchen die Tiefe. In den ausgehobenen Gräbern steht dampfend das Wasser. Zwischen umgefallenen Grabsteinen und Kreuzen liegen dreckverschmiert Spaten und Schippen. Eintönig plätschert der Regen in den Pfützen und Gruben und lässt große Wasserblasen in der gelbbraunen Jauche platzen. Während der kalte Ostwind über die baumlose Ebene peitscht, versinkt der Gottesacker, der keine zwei Steinwürfe außerhalb des alten Dorfes liegt in Wasser und Schlamm. Aber was heißt schon Dorf. Vom Dorf sind nur die Grundmauern einiger Häuser und ein verfallenes gelbes Schild am Friedhofszaun geblieben. Aber auch das trägt schon keinen Namen mehr. Nur ein paar zerfressene Buchstaben und die machen auch keinen Namen. Auch der Regen weiß keinen. Gleichmäßig und unablässig kommt er von einem trüben Himmel herab und hüllt alles in ein nasskaltes Schweigen. Die Welt scheint darin unterzugehen.
Nur das Trommeln der Regentropfen auf einem grauen Bauwagen verrät mehr. Denn da ist die Tür, die sich jetzt öffnet und einen blassen Lichtschein auf den durchweichten Boden wirft. Das Gesicht eines Mannes erscheint in der Öffnung. Er trägt einen Helm, schmutzig grau wie der Himmel, der sich dicht über den alten Friedhof gelegt hat. Müssen die auch alle Seelen mit nach Drehna schleppen, schreit er wütend in die trostlose Landschaft. Hier werden wir nie fertig.
Die Toten lernen erst mal schwimmen, erwidert ein anderer. Sein bärtiges Gesicht erscheint jetzt auch in der Türöffnung. Die Gräber stehn seit Stunden unter Wasser.
Scheiße, flucht ein dritter. Die wolln nicht weg. Solln sie doch in ihrem Sandbüchsenboden vermodern.
Arbeit ist Arbeit, ermahnt der Mann mit dem Helm. Außerdem nehmen wir ja bloß eine Handvoll mit und die Steine bleiben sowieso da. Soll den Rest doch der Teufel holen.
Trotzdem jagt man bei dem Wetter keinen Hund vor die Tür, schimpft der Bärtige. Nicht mal der Pfarrer ist bei der Umbettung erschienen. Lassen uns hier mit ihren Leichen im Stich.
Umbettung ist gut, sagt der Mann mit dem Helm. Das ist wohl mehr eine Umschiffung.
Nenn es wie du willst, tönt es unwirsch aus dem Inneren. Scheiße, sag ich.
Der Regen trommelt gegen das Blechdach. Dann verschwindet der Lichtschein, weil die Tür das Licht wieder einfängt und zurückholt in den Wagen.
Ganz so ist es ja nicht mit dem im Stich lassen, sagt der Bärtige und schiebt die Gardine am kleinen Bauwagenfenster zur Seite. Der junge Kerl da hinten, seht ihr den? Der steht schon eine geschlagene Stunde so. Wie angegossen.
Zwei Augenpaare schieben sich von innen vor das Fenster. Zwischen ihnen steigt grau der Rauch.
Der Mann mit dem Helm nickt. Sieht so aus.
Und wirklich. Am Rande des Friedhofes steht einer, blass und blutleer wie der Tag. Ein Gespenst in der verregneten Dämmerung.
Das Wasser tropft dem jungen Mann vom Gesicht und läuft auf den dunklen altmodischen Mantel. Das Gesicht zeichnet eine runde Nickelbrille. Die Gläser sind beschlagen.
Ich glaube, sagt der Bärtige, dass ist der gleiche, der da immer zwischen den Trümmern im Dorf umherstöbert. Mit dem Zeigefinger an der Stirn zeigt er, was er von dem jungen Mann hält.
Jedenfalls holt der sich noch den Tod, sagt der Mann mit dem Helm.
Macht nichts, entgegnet der Bärtige und lacht. Dann legen wir den hier gleich mit zu.
Der dritte hustet, weil er nicht lachen kann. Asthma, sagt der Bauleiter. Asthma.
Dann schiebt sich die Gardine wieder vor das Fenster und die drei Männer bleiben im Bauwagen zurück.
Geblieben ist dieser junge Kerl mit dem kurzgeschorenen dunklen, aber klatschnassen Haar und der beschlagenen Nickelbrille. Ottmar, Pfarrers Sohn aus Drehna in der Mark. Eigentlich Fürstlich Drehna. Aber den Beinamen haben die Kommunisten gestohlen, sagt Pfarrer Graustock, dem eine Pfarrstelle in Fürstlich Drehna auch besser gefallen würde. Gestohlen, auch wenn seine Frau das gar nicht hören will, wegen der Kinder oder besser den drei Söhnen. Von denen der jüngste nun dasteht wie angegossen.
Nur er?
Nein, da ist noch eine Gestalt. Wie ein Schleier schiebt sie sich langsam und gespensterhaft gegen den Horizont. Richtung Chaussee, Richtung Drehna. Sie ist leicht gebückt und setzt mit jedem Schritt einen Stock auf den vernarbten Asphalt. Hin und wieder hebt sich ihr schmales eingefallenes Gesicht. Dann sind auch die silbernen Haarspangen zu sehen, die das graue halblange Haar über der Stirn festhalten. Der Atem der alten Frau geht schwer im dichten Regen.
Noacks Elli, vermutet Ottmar und reibt mit dem Taschentuch die beschlagenen Brillengläser. Sie muss es sein. Wen sonst treibt es bei diesem Wetter in diese Einöde.
Die Frau schaut sich jetzt um. Nicht nach Ottmar. Den sieht sie nicht. Dafür aber ...
Ja, das ist es, das Dorf. Es steigt aus dem Regen wie eine Fata Morgana mit seinen niedrigen Gehöften, die sich unter den Straßenlinden an die zernarbte Chaussee drücken. Mit Dächern rot wie der Crinitzer Ziegel, darauf der alte Himmel ruht. Dahinter die Wiesen, die sich grün in die sanfte Landschaft rollen. Bis dass der Wald sie aufhält, schwarz und drohend.
Langsam geht die alte Frau an den Hoftoren entlang und flüstert die Namen. Krüger, Heisich, Körner. Bei Beckmann hält sie inne. Klara, sagt sie mit einer entrückten Stimme. Klara Beckmann und jetzt das. Heim! Und schüttelt sich. Nicht wegen der Kälte, die sich jetzt unter den langen schwarzen Rock schiebt. Heim!
Ottmar entgeht das Schütteln trotz der Entfernung nicht. So muss es sein, wenn man alles verloren hat, denkt er. Seine Heimat und seine Geschichte. Und wie er das denkt, taucht auch der Name wieder auf. Entrissen der Zeit, entrissen dem Vergessen. Presenchen.
Doch die alte Noack ist in dem kleinen Straßendorf schon weiter. Bei Beckmanns schönem Backsteingehöft am Ortseingang vorbei und bei Körner vorbei, wo der Hund anschlägt. Direkt zur Deutschen Eiche, auch wenn sie nur noch Konsumgaststätte sein durfte und am Ende nicht mal das. Langsam schiebt sie sich die breite, aus roten Ziegelsteinen gemauerte Freitreppe empor, öffnet die knarrende Eingangstür und empfängt den vertrauten warmen Geruch der gefüllten Gaststube. Der steigt aus den geölten Dielen, kommt als trockene Wärme aus dem Kachelofen aus der Ecke oder liegt feucht über dem Spülbecken, wo er sich mit dem Qualm der Zigaretten und dem Geruch frisch gezapften Bieres verbindet. Da sitzen sie, rauchend und aufgeregt diskutierend. Pülsch Richard in seiner Forstuniform und der lange Krüger, der hagere Beckmann und der dicke Körner von der Poststelle. Und ihre Tochter, die Roswitha mit dem roten Haar. Und dazwischen Pascha, der Enkel, pausbäckig und lautstark vom Stammtisch zum Tresen rennend, wo sich der Erich, ihr Mann mit hochgekrempelten Armen am Spülbecken zu schaffen macht.
Noacks Elli bemerkt niemand. Leise tritt sie an den Tresen, weil sie die Runde nicht stören will. Nicht den Beckmann, der wie immer über die Politik schimpft und nicht den Richard, der die Forstmütze weit in den Nacken geschoben hat und schon gar nicht den Körner, der in der Partei ist. Sollen sie doch bleiben alle. Wortlos stellt sie sich neben ihren Mann. Aber auch der schaut nicht auf. Dabei hat sie noch nie so dicht neben ihrem Erich gestanden. Ihre Blicke überfliegen den Raum, das alte Sofa, die vom Qualm gelb gewordenen Gardinen, die große Wanduhr und das vergilbte Ulbricht-Bild über dem Stammtisch. Oder war es Grotewohl? Oder der Führer oder Honecker? Sie will es nicht wissen. Genüsslich zieht sie den vertrauten Duft von Zigarettenrauch, Bierschaum, feuchtem Holz und Männerschweiß in ihre Nase. Und sie genießt das Rauschen des Wasserstrahls, der sich unablässig in das Spülbecken ergießt, das Aneinanderschlagen von Gläsern, das Stimmengewirr und das Schlurfen der Gummistiefel und schweren Arbeitsschuhe auf dem Dielenboden, das Knarren der Stühle, das eintönige Summen der Fliegen über den Tischen und den schweren Schlag der Uhr im Hintergrund .... Hört sie ihn nicht wieder? Und immer wieder?
Sie öffnet die Augen. Von Drehna her dringen Glockenschläge durch die Dämmerung. Sie verlieren sich auf der kahlen Ebene, die sich nach Presenchen hin öffnet. Dort wo nur noch die Grundmauern einiger Häuser den metallenen Klang der Glocke aufnehmen, um ihn für immer im Backstein zu verschließen.
Elli Noack schaut auf ihre Armbanduhr. Die hatte ihr mal Roswitha geschenkt. Gleich nachdem sie nach ihrer Flucht im Westen angekommen war. Direkt vom Ku`damm. Aber was ist schon der Westen und was der ganze Ku`damm gegen den Schmerz der Erinnerung in durchwachten Nächten, hier in dieser märkischen Einöde. Der Westen ist weit weg, Roswitha, das einzige ihr gebliebene Kind, ist auch weit weg und Erich und vor allem Pascha, der Enkel sind tot. Begraben da unten im märkischen Sandbüchsenboden, durch den sich jetzt der eiserne Koloss frisst. Begraben wie die roten Backsteinhäuser und verschlafenen Gehöfte, Ställe und Brunnen, Äcker und Wiesen, Bäume und Sträucher in den blühenden Gärten. Begraben wie die Blumen, rot, gelb und blau in den gepflegten Vorgärten der Bauernhäuser.
Der Tod hat einen Namen. Drei Silben nur und so banal, wie ihn das Leben nicht besser tragen könnte: Tagebau. Welch ein friedlicher Name für dieses riesige Ungeheuer auf tönernen Rädern und stählernen Schienen. Quietschend und kreischend beißen sich die Eimerketten durch die Landschaft voran. Hungrig nach Erde, hungrig nach brauner Kohle, hungrig nach Leben.
Elli Noack muss weiter. Blass verschwimmt ihre Gestalt am Horizont. Dort wo noch einige Bäume geblieben sind. Und sich jetzt schützend vor die erste Reihe Drehnaer Häuser stellen.